BGH, Beschluss vom 30. Juni 2021 - XII ZB 573/20

20.09.2021

BUNDESGERICHTSHOF

vom

30. Juni 2021

in der Unterbringungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


FamFG § 325


Wurde in einer durch Zeitablauf erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten dem Betroffenen nicht bekannt gegeben, liegt eine Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör vor (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 - XII ZB 291/20 - FamRZ 2021, 462).


BGH, Beschluss vom 30. Juni 2021 - XII ZB 573/20 - LG Ansbach, AG Ansbach


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 30. Juni 2021 durch den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Nedden-Boeger, Dr. Botur und Guhling

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Ansbach vom 27. November 2020 und der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Ansbach vom 10. Dezember 2020 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Die außergerichtlichen Kosten des Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe:

[1] I. Die Rechtsbeschwerde wendet sich gegen die durch Zeitablauf erledigte Genehmigung ärztlicher Zwangsmaßnahmen und begleitender freiheitsentziehender Maßnahmen.

[2] Der im Jahre 1965 geborene und im zuständigen Bezirksklinikum untergebrachte Betroffene leidet seit Jahren unter einer chronifizierten schizophrenen Psychose. Für ihn ist der Beteiligte zu 1 als Berufsbetreuer mit umfassendem Aufgabenkreis bestellt.

[3] Nach Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens, Bestellung eines Verfahrenspflegers und Anhörung des Betroffenen hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 27. November 2020 die Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmedikation mit Haldol Decanoat bis längstens 22. Januar 2021 sowie die zeitweise oder regelmäßig erfolgende Freiheitsentziehung durch Isolierung und eine Fünf-Punkt-Fixierung des Betroffenen bis längstens 11. Dezember 2020 genehmigt. Auf die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht mit Beschluss vom 10. Dezember 2020 die Höchstfrist für die Zwangsmedikation auf die gesetzlich zulässige Dauer von sechs Wochen verkürzt und das Rechtsmittel im Übrigen zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene die Feststellung, durch die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts in seinen Rechten verletzt worden zu sein.

[4] II. Die statthafte (vgl. Senatsbeschluss vom 8. Mai 2019 - XII ZB 2/19 -

FamRZ 2019, 1181 Rn. 6) und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts, weil diese den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben, was nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 - XII ZB 291/20 - FamRZ 2021, 462 Rn. 6 mwN) festzustellen ist.

[5] 1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die erstinstanzliche Anhörung des Betroffenen am 27. November 2020 verfahrensfehlerhaft gewesen ist, weil ihm vor der Anhörung das Sachverständigengutachten nicht überlassen worden ist.

[6] a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats setzt die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern. Davon kann nur unter den Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 325 Abs. 1 FamFG abgesehen werden. Wird das Gutachten dem Betroffenen nicht ausgehändigt, verletzt das Verfahren ihn grundsätzlich in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 - XII ZB 291/20 - FamRZ 2021, 462 Rn. 8 mwN).

[7] b) Diesen Anforderungen wird das Verfahren des Amtsgerichts nicht gerecht.

[8] Ausweislich der Gerichtsakten ist das von dem Sachverständigen S. erstattete schriftliche Gutachten am 25. November 2020 bei dem Amtsgericht eingegangen. Der Betreuungsrichter hat durch Beschluss vom 26. November 2020 den Beteiligten zu 3 zum Verfahrenspfleger bestellt und am gleichen Tag verfügt, dass dem Betroffenen eine Abschrift des Bestellungsbeschlusses übersandt werde. Diese Verfügung enthält - anders als die Übersendungsverfügung an den Verfahrenspfleger - keine Anweisung dahingehend, dass der Ausfertigung des Bestellungsbeschlusses ein Abdruck des Gutachtens beigefügt werden solle. Auch sonst lässt sich der Gerichtsakte nicht entnehmen, dass vor dem Anhörungstermin am 27. November 2020 eine Bekanntgabe des Gutachtens an den Betroffenen erfolgt wäre. Der am 30. November 2020 gefertigte Anhörungsvermerk enthält ebenfalls keinen Hinweis darauf, dass dem Betroffenen bei der Anhörung der Inhalt des Sachverständigengutachtens bereits bekannt gewesen sein könnte. Die Voraussetzungen des § 325 Abs. 1 FamFG, nach dem von einer Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens an den Betroffenen abgesehen werden kann, hat der Sachverständige S. in seinem Gutachten ausdrücklich verneint. Die Bekanntgabe des Gutachtens an den Verfahrenspfleger ersetzt eine Bekanntgabe an den Betroffenen nicht.

[9] 2. Mit Recht beanstandet die Rechtsbeschwerde zudem als verfahrensfehlerhaft, dass das Beschwerdegericht von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abgesehen hat.

[10] a) Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbringungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch unter anderem voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 - XII ZB 291/20 - FamRZ 2021, 462 Rn. 15 mwN).

[11] b) Gemessen daran durfte das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall nicht - wie geschehen - von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG absehen. Denn die Anhörung des Betroffenen durch das Amtsgericht litt an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil ihm das eingeholte Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin am 27. November 2020 überlassen worden ist. Das Beschwerdegericht hätte diesen Mangel durch die Übersendung des Sachverständigengutachtens an den Betroffenen und dessen anschließende erneute Anhörung beheben müssen.

[12] 3. Der Betroffene ist durch diese Verfahrensmängel in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden.

[13] a) Die Feststellung, dass ein Betroffener durch die angefochtene Entscheidung in seinen Rechten verletzt ist, kann grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Dabei ist die Feststellung nach § 62 FamFG jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Verfahrensfehler so gravierend ist, dass die Entscheidung den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung hat, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 - XII ZB 291/20 - FamRZ 2021, 462 Rn. 18 mwN).

[14] b) Wurde in einer - wie hier - durch Zeitablauf erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten dem Betroffenen nicht bekannt gegeben, ist von einer Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör auszugehen. Schon allein dieser Verfahrensfehler ist so gewichtig, dass er die Feststellung nach § 62 FamFG zu rechtfertigen vermag, weil er einer Verwertung des gemäß § 321 Abs. 1 FamFG unabdingbaren Sachverständigengutachtens entgegensteht (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 - XII ZB 291/20 - FamRZ 2021, 462 Rn. 19 mwN).

[15] Auch das Unterbleiben einer verfahrensordnungsgemäßen persönlichen Anhörung des Betroffenen stellt einen Verfahrensmangel dar, der derart schwer wiegt, dass der genehmigten Unterbringungsmaßnahme insgesamt der Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung anhaftet. Die durch § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG angeordnete persönliche Anhörung gehört zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Verletzung die Feststellung nach § 62 FamFG rechtfertigt (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 - XII ZB 291/20 - FamRZ 2021, 462 Rn. 20 mwN).

[16] c) Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der - hier durch Zeitablauf erledigten - Unterbringungsmaßnahme feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Anordnung oder Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1

FamFG (st. Rspr. des Senats, vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020

- XII ZB 291/20 - FamRZ 2021, 462 Rn. 21 mwN).

[17] 4. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.

Dose Schilling Nedden-Boeger

Botur Guhling

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