BGH, Beschluss vom 7. November 2017 - VI ZR 173/17

09.01.2018

BUNDESGERICHTSHOF

vom

7. November 2017

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 544 Abs. 7


Das Gericht verletzt den Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG, wenn es bei seiner Annahme, ein Behandlungsfehler sei nicht als grober Fehler anzusehen, von der Partei vorgetragene, für die Bewertung des Behandlungsgeschehens erhebliche Umstände übergeht (hier: Vortrag dahin, der Fehler beruhe auf einem Organisations- bzw. Übertragungsfehler, nicht auf einer Abwägung der Chancen und Risiken der unterbliebenen Befundung).


BGH, Beschluss vom 7. November 2017 - VI ZR 173/17 - OLG Frankfurt am Main, LG Marburg


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. November 2017 durch den Vorsitzenden Richter Galke, den Richter Offenloch, die Richterinnen Dr. Roloff und Dr. Müller und den Richter Dr. Allgayer

beschlossen:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 15. Zivilsenats in Kassel des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 6. April 2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: bis 350.000 €

Gründe:

[1] I. Die an einer fokalen interstitiellen Myositis leidende Klägerin begehrt Schadensersatz und die Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten wegen einer behauptet fehlerhaften ärztlichen Behandlung.

[2] Nachdem bei der Klägerin in den Jahren 2003 und 2004 bei Behandlungen in der Universitätsklinik der Beklagten erhöhte Creatinkinase-Werte (CK-Werte) festgestellt und auch in der Folgezeit deutlich erhöhte CK-Werte gemessen worden waren, deren Ursache nicht gefunden werden konnte, stellte sich die Klägerin im September 2007 wegen des Verdachts auf einen Epstein-Barr-Virus-Infekt (erneut) in der Klinik der Beklagten vor. Während der stationären Behandlung vom 12. bis 17. September 2007 erfolgte durch die konsiliarisch hinzugezogene Neurologische Klinik am 14. September 2007 eine (erneute) EMG-Untersuchung. Diese ergab keinen elektromyographischen Hinweis auf eine Myopathie. In dem Konzilbefund der Fachärztin für Neurologie L. vom 14. September 2007 (Anlage K 3) heißt es, die Klägerin klage subjektiv über ein Muskelspannungsgefühl. Es ist weiter vermerkt: "Derzeit kein sicherer Hinweis für Myopathie. Aufgrund der unklaren CK-Erhöhung Muskelbiopsie relativ indiziert". Eine Muskelbiopsie wurde tatsächlich aber nicht umgesetzt, wobei die Gründe hierfür nach den Feststellungen des Berufungsgerichts unklar sind. Im Entlassungsbrief der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Immunologie vom 17. September 2007 (Anlage K 4) heißt es, die Klägerin habe seit einer knappen Woche über Gliederschmerzen geklagt, vor allen Dingen in den Beinen, zum Teil stechende Schmerzen und Kraftlosigkeit beim Gehen. Die Ärzte der Beklagten diagnostizierten einen Epstein-Barr-Virus und eine idiopathische CK-Erhöhung. Weiter heißt es in dem Arztbrief: "... findet sich kein sicherer Hinweis für eine Myopathie. Eine Muskelbiopsie ist z.Zt. nicht indiziert".

[3] Auf Vermittlung ihres Internisten befand sich die Klägerin in der Zeit vom 24. Juni bis 2. Juli 2008 in stationärer Behandlung in der Neurologischen Klinik und Poliklinik der Universitätsklinik W. Aufgrund einer am 30. Juni 2008 durchgeführten Muskelbiopsie im rechten M. quadriceps wurde die Diagnose einer fokalen interstitiellen Myositis (chronische entzündliche Erkrankung der Skelettmuskulatur) gestellt (Anlage K 5) und daraufhin eine Kortikosteroid-Pulstherapie mit Prednisolon 500 mg über fünf Tage eingeleitet. In den folgenden Jahren wurde die Klägerin mit Azathioprin medikamentös behandelt, bevor sie im März 2013 die Therapie beendete. Begleitend hierzu wurde ihr Krankengymnastik verordnet, die sie auch durchführte.

[4] Von Klägerseite wurde im August 2009 ein Schlichtungsverfahren vor der Gutachter- und Schlichtungsstelle für ärztliche Behandlungen bei der Landesärztekammer Hessen betrieben. Dort erstattete der Sachverständige Prof. Dr. J. (im folgenden "Schlichtungsgutachter") am 15. März 2011 ein Gutachten, in dem er feststellte, dass eine Muskelbiopsie bereits im Rahmen der stationären Diagnostik in der Universitätsklinik der Beklagten im April 2004 aus Sicht der Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Diagnostik von Myopathien 2008 indiziert gewesen sei. Die Entscheidung der Ärzte im September 2007, weiterhin auf eine Biopsie ohne eine erweiterte Diagnostik (z.B. Myo-MRT) zu verzichten, sei vor dem Hintergrund deutlicher Hinweise auf eine weiterhin diagnostisch unklare Situation und einer deswegen auch aus internistischer Sicht naheliegenden Indikation für eine Muskelbiopsie nicht nachvollziehbar.

[5] Ausgehend hiervon wirft die Klägerin der Beklagten vor, dass infolge unterlassener Diagnostik in den Jahren 2004 und 2007 die Erkrankung nicht früher bemerkt und behandelt worden sei. Eine umfassende Diagnostik sei aufgrund der erhöhten CK-Werte und der klinischen Symptome ohne plausible Erklärung aber bereits 2004 erforderlich gewesen. Im Jahre 2007 hätte eine Diagnostik auch durch Muskelbiopsie erfolgen müssen. In dem Unterlassen einer Muskelbiopsie sieht die Klägerin einen groben Befunderhebungsfehler, der nach ihrer Ansicht zu einer Beweislastumkehr führe.

[6] Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und mündlicher Anhörung des Sachverständigen abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin nach Einholung eines neurologischen Zusatzgutachtens und der Anhörung des Sachverständigen zurückgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.

[7] II. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht ist unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu der Annahme gelangt, dass der im Jahr 2007 von ihm festgestellte Befunderhebungsfehler nicht als grober Fehler anzusehen sei.

[8] 1. Das Berufungsgericht hat - soweit hier erheblich - ausgeführt, die Berufung wende sich ohne Erfolg gegen die Beurteilung des Landgerichts, der den Ärzten der Beklagten im Jahr 2007 zur Last zu legende Befunderhebungsfehler sei nicht als grober, sondern nur als einfacher Befunderhebungsfehler zu werten.

[9] Zwar hätte im September 2007 angesichts der langjährigen Erhöhung der CK-Werte und der Beschwerden zumindest eine Muskel-MRT-Untersuchung und ggf. eine Muskelbiopsie durchgeführt werden müssen. Auf der Grundlage der ergänzenden Ausführungen des Gerichtssachverständigen im Berufungsrechtszug stelle sich aber auch zur Überzeugung des Senats das Unterlassen der Einleitung oder Durchführung einer weiterführenden Diagnostik im September 2007 nicht als ein im Rechtssinne grober Befunderhebungsfehler dar. Der Gerichtssachverständige habe ausgeführt, dass seiner Ansicht nach im September 2007 eine weiterführende Befunderhebung hätte stattfinden sollen. Zumindest eine bildgebende Diagnostik wäre angezeigt gewesen. Seiner persönlichen Auffassung nach handele es sich hier aber lediglich um einen einfachen Befunderhebungsfehler. Bei seiner Anhörung durch den Senat habe der Sachverständige ergänzend angegeben, er bleibe dabei, dass er den Fehler, im Jahre 2007 keine Muskelbiopsie zu machen, nicht als völlig unverständlichen Fehler bezeichnen könne. Von der Neurologin sei die Muskelbiopsie als "relativ indiziert" beschrieben worden, was seiner Auffassung nach korrekt sei. Nach der erneuten EMG-Untersuchung ohne elektromyographischen Hinweis auf eine Myopathie und den unauffälligen klinischen Befunden tue man sich schwer mit einer absoluten Indikation. Dabei müsse man seiner Ansicht nach auch bedenken, dass die Muskelbiopsie ein Eingriff sei, der mit Risiken verbunden sei, und den man deshalb nicht ohne weiteres durchführe. Entscheidend sei immer der klinische Befund. Der Krankheitsverlauf der Klägerin sei aber nicht akut gewesen.

[10] Insoweit folge der Senat dem Sachverständigen. Bei dem bei der Klägerin vorliegenden unklaren Krankheitsbild sei trotz des differentialdiagnostisch einzubeziehenden Verdachts auf eine immunogene Myositis das Unterbleiben weitergehender Diagnostik zwar fehlerhaft, aber kein eindeutiger und grober Verstoß gegen im Jahr 2007 bewährte ärztliche Behandlungsregeln, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheine. Eine andere Sichtweise wäre möglicherweise gerechtfertigt, wenn die Ärzte der Beklagten eine Myopathie gar nicht im Blick gehabt hätten. Das sei hier aber nicht der Fall gewesen, denn über eine eventuelle Muskelbiopsie sei die Klägerin bereits aufgeklärt worden und wegen des Verdachts einer Myopathie sei durch die konsiliarisch hinzugezogene Neurologische Klinik am 14. September 2007 eine erneute EMG-Untersuchung erfolgt, indes mit dem Ergebnis, dass aus Sicht der Neurologie eine Muskelbiopsie nur relativ indiziert sei.

[11] An dieser Einstufung sehe sich der Senat auch nicht durch die Ausführungen des Schlichtungsgutachters gehindert. Dieser habe die Entscheidung zwar als nicht nachvollziehbar bezeichnet; den Ausführungen könne der Senat aber nicht entnehmen, dass das Unterlassen der Diagnostik unverzeihlich bzw. schlechterdings nicht nachvollziehbar oder eindeutig fehlerhaft gewesen sei. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus den hier maßgeblichen Leitlinien zur Diagnostik und Therapie der Myositiden. Auch nach diesem Beurteilungsmaßstab könne ein Unterlassen einer solchen Diagnostik in der Zusammenschau aller genannten Umstände bei der Klägerin nach Überzeugung des Senats juristisch nicht als grob fehlerhaft eingestuft werden.

[12] 2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht bei diesen Ausführungen das Vorbringen der Klägerin nicht berücksichtigt hat, das Unterlassen der Diagnostik beruhe nicht auf einer planmäßigen und nachvollziehbaren Entscheidung der Beklagten, sondern auf einem Organisationsfehler. In den Krankenunterlagen sei aufgrund eines Übertragungsfehlers fehlerhaft vermerkt worden, eine Muskelbiopsie sei "nicht indiziert".

[13] a) Zutreffend geht das Berufungsgericht zunächst davon aus, dass ein Behandlungsfehler als grob zu bewerten ist, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Gesicherte medizinische Erkenntnisse, deren Missachtung einen Behandlungsfehler als grob erscheinen lassen, sind nicht nur die Erkenntnisse, die Eingang in Leitlinien, Richtlinien oder anderweitige Handlungsanweisungen gefunden haben. Hierzu zählen vielmehr auch die elementaren medizinischen Grundregeln, die im jeweiligen Fachgebiet vorausgesetzt werden (st. Rspr.; Senat, Urteil vom 20. September 2011 - VI ZR 55/09, NJW 2011, 3442 Rn. 10, 11 mwN). Auch ein Verstoß des Krankenhausträgers gegen die ihm obliegenden Organisationspflichten kann sich im Einzelfall als grober Fehler darstellen (Senat, Urteil vom 16. April 1996 - VI ZR 190/95, NJW 1996, 2429 unter II 2). Bei der Bewertung und Einstufung eines Fehlers sind alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, so dass auch eine Häufung mehrerer an sich nicht grober Fehler die Behandlung insgesamt als grob fehlerhaft erscheinen lassen kann (st. Rspr.; Senat, Urteile vom 16. Mai 2000 - VI ZR 321/98, BGHZ 144, 296, 303 ff.; vom 20. September 2011 - VI ZR 55/09, NJW 2011, 3442 Rn. 13 mwN).

[14] b) Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht den Sachvortrag der Klägerin zu den Umständen des hier vorliegenden Einzelfalls nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt hat. Erweist sich der Vortrag der Klägerin als zutreffend, das Unterbleiben der Untersuchung habe nicht auf einer bewussten Entscheidung der behandelnden Ärzte, sondern auf einem Organisations- und Übertragungsfehler beruht, in deren Folge zu Unrecht angenommen worden sei, eine Muskelbiopsie sei nicht indiziert, so handelt es sich hierbei um einen bei der Bewertung des Behandlungsgeschehens erheblichen Umstand, den weder der Sachverständige noch das Berufungsgericht in ihre Erwägungen einbezogen haben. In diesem Fall bezögen sich die Ausführungen des Berufungsgerichts nicht auf das tatsächliche Behandlungsgeschehen, sondern auf einen lediglich fiktiven Sachverhalt, nämlich darauf, ob eine Muskelbiopsie bei einer - tatsächlich nicht vorliegenden - Abwägung der Chancen und Risiken durch die behandelnden Ärzte hätte unterbleiben dürfen.

[15] c) Die Gehörsverletzung ist auch erheblich, da das Berufungsgericht eine Beweislastentscheidung getroffen hat. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass es zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn es den Vortrag der Klägerin in der gebotenen Weise berücksichtigt hätte.

[16] d) Bei der neuen Verhandlung und Entscheidung wird das Berufungsgericht zunächst aufzuklären haben, aus welchen Gründen die Muskelbiopsie trotz der konsiliarisch festgehaltenen relativen Indikation unterblieben ist. Es wird dabei zu berücksichtigen haben, dass der übergangene Vortrag der Klägerin soweit ersichtlich von der Beklagten nicht bestritten worden ist. Es wird bei seiner neuen Beurteilung ferner in den Blick nehmen müssen, dass auch die zur Vorbereitung einer Muskelbiopsie nach seinen eigenen Feststellungen erforderliche, nicht invasive Muskel-MRT-Untersuchung unterblieben ist, die nach den Ausführungen des Sachverständigen ein Muskelödem oder Muskelatrophien hätte zeigen können. Schließlich wird das Berufungsgericht auch Gelegenheit haben, sich mit dem weiteren Vorbringen der Klägerin im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren auseinanderzusetzen.

Galke Offenloch Roloff

Müller Allgayer

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