BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2021 - XII ZB 213/21

15.03.2022

BUNDESGERICHTSHOF

vom

8. Dezember 2021

in der Betreuungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


FamFG §§ 68 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, 278 Abs. 1


Wird in einem Betreuungsverfahren die nach § 278 Abs. 1 Satz 1 FamFG zwingend erforderliche persönliche Anhörung des Betroffenen vom Amtsgericht erst im Abhilfeverfahren durchgeführt, darf das Beschwerdegericht nicht von der auch im zweitinstanzlichen Verfahren grundsätzlich gebotenen persönlichen Anhörung des Betroffenen absehen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 22. September 2021 ­ XII ZB 93/21 ­ juris).


BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2021 - XII ZB 213/21 - LG Duisburg, AG Duisburg-Hamborn


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. Dezember 2021 durch den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Günter, Dr. Nedden-Boeger und Guhling

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde des weiteren Beteiligten zu 3 wird der Beschluss der 12. Zivilkammer des Landgerichts Duisburg vom 12. April 2021 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Wert: 5.000 €

Gründe:

[1] I. Der Beteiligte zu 3 wendet sich gegen die für die Betroffene eingerichtete Betreuung.

[2] Die Betroffene, die an einer mittelgradigen bis schwer ausgeprägten Demenz leidet, erteilte am 27. November 2018 dem Beteiligten zu 3, ihrem Lebensgefährten, eine Vorsorgevollmacht. Nach einer am 3. November 2020 durchgeführten Anhörung der Betroffenen hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 4. November 2020 den Sohn der Betroffenen zum vorläufigen Betreuer bestellt.

[3] Am 13. November 2020 hat das Amtsgericht ein Sachverständigengutachten zur Frage der Betreuungsbedürftigkeit der Betroffenen in Auftrag gegeben, welches am 30. November 2020 bei Gericht eingegangen ist.

[4] Mit Beschluss vom 21. Dezember 2020 hat das Amtsgericht den Beteiligten zu 1 zum Berufsbetreuer bestellt und ihm den Aufgabenkreis Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge, Heimangelegenheiten, Vertretung gegenüber Behörden, Sozialversicherungsträgern und Krankenkassen sowie Postangelegenheiten übertragen. Gegen diese Entscheidung hat der Beteiligte zu 3 Beschwerde eingelegt. Das Amtsgericht hat die Betroffene im Abhilfeverfahren angehört.

[5] Das Landgericht hat die Beschwerde ohne erneute Anhörung der Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Beteiligte zu 3 mit der Rechtsbeschwerde.

[6] II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

[7] 1. Die Rechtsbeschwerde rügt im Ergebnis zu Recht, dass das Beschwerdegericht unter Verstoß gegen §§ 278 Abs. 1 Satz 1, 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG ohne persönliche Anhörung der Betroffenen über die Beschwerde des Beteiligten zu 3 gegen den amtsgerichtlichen Beschluss vom 21. Dezember 2020 entschieden hat.

[8] a) Gemäß § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (Senatsbeschluss vom 4. Dezember 2019 ­ XII ZB 392/19 ­ NJW 2020, 852 Rn. 5 mwN).

[9] b) Danach durfte das Beschwerdegericht nicht ohne persönliche Anhörung der Betroffenen über die Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 21. Dezember 2020 entscheiden. Denn das vom Amtsgericht durchgeführte Verfahren war fehlerhaft, weil es die Betroffene zu einem Zeitpunkt angehört hat, als das Sachverständigengutachten noch nicht erstattet war und auch die spätere Anhörung im Abhilfeverfahren diesen Verfahrensfehler nicht mehr heilen konnte.

[10] aa) Zwar regelt § 278 Abs. 1 FamFG nicht, zu welchem Zeitpunkt die Anhörung des Betroffenen zu erfolgen hat. Daher steht es grundsätzlich im Ermessen des Gerichts, wann es den Betroffenen anhört. Der Senat hat jedoch bereits entschieden, dass die nach § 278 Abs. 1 FamFG zwingend erforderliche Anhörung des Betroffenen regelmäßig erst nach Eingang des Sachverständigengutachtens durchgeführt werden muss. Denn sonst kann die Anhörung weder die Funktion erfüllen, dem Betroffenen Gelegenheit zu geben, sich zu dem Sachverständigengutachten und den sich daraus ergebenden neuen Umständen zu äußern, noch kann das Betreuungsgericht die im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht (§ 26 FamFG) gebotene kritische Überprüfung des Gutachtens anhand des in einer Anhörung gewonnenen persönlichen Eindrucks vornehmen (vgl. Senatsbeschluss vom 27. Februar 2019 ­ XII ZB 44/18 ­ MDR 2019, 392 Rn. 9 mwN).

[11] bb) Zudem hat der Senat nach Erlass des angegriffenen Beschlusses entschieden, dass eine fehlerhafte oder unterbliebene erstinstanzliche Anhörung eines Betroffenen in einem Betreuungsverfahren im Abhilfeverfahren regelmäßig weder geheilt noch nachgeholt werden kann (Senatsbeschluss vom 22. September 2021 ­ XII ZB 93/21 ­ juris Rn. 14 ff.).

[12] cc) Dem wird das amtsgerichtliche Verfahren nicht gerecht.

[13] (1) Das Amtsgericht hat die Betroffene nur am 3. November 2020 im Verfahren zur Bestellung eines vorläufigen Betreuers und damit zu einem Zeitpunkt angehört, als das Sachverständigengutachten, auf das das Amtsgericht seine Entscheidung gestützt hat, noch nicht bei Gericht eingegangen war.

[14] (2) Die im Hauptsacheverfahren verfahrensfehlerhaft unterlassene Anhörung konnte auch nicht durch die erneute Anhörung der Betroffenen im Abhilfeverfahren, bei der das Sachverständigengutachten vorgelegen hat, geheilt werden.

[15] 2. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben und die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen, weil sie noch nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG).

[16] Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

Dose Schilling Günter

Nedden-Boeger Guhling

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