BGH, Urteil vom 5. Dezember 2018 - IV ZR 81/18
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Verkündet am:
5. Dezember 2018
SchickJustizangestellteals Urkundsbeamtinder Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
VVG § 193 Abs. 6 bis 9
Im Notlagentarif der privaten Krankenversicherung ist der Versicherer nicht gehindert, mit rückständigen Beiträgen gegen Kostenerstattungsansprüche des Versicherungsnehmers aufzurechnen.
BGH, Urteil vom 5. Dezember 2018 - IV ZR 81/18 - LG Osnabrück, AG Bersenbrück
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende Richterin Mayen, die Richter Prof. Dr. Karczewski, Lehmann, die Richterinnen Dr. Brockmöller und Dr. Bußmann auf die mündliche Verhandlung vom 5. Dezember 2018
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück vom 28. Februar 2018 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
[1] Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte gegenüber dem Anspruch des Klägers auf Übernahme der Kosten für eine Krankenhausbehandlung im so genannten Notlagentarif die Aufrechnung mit rückständigen Prämien erklären darf.
[2] Der bei der Beklagten seit 1983 krankenversicherte Kläger ist bei dieser wegen Prämienrückständen seit dem 1. September 2016 im Notlagentarif gemäß den hierfür maßgeblichen Allgemeinen Versicherungsbedingungen versichert. Im Zeitraum vom 15. bis 18. November 2016 befand er sich in stationärer Behandlung in einem Krankenhaus. Hierfür wurden ihm 1.897,04 € in Rechnung gestellt. Mit Schreiben vom 12. Januar 2017 übersandte die Beklagte dem Kläger eine Abrechnung, aus der sich eine Aufrechnung mit Prämienrückständen ergibt. Eine Zahlung an den Kläger erfolgte hierauf nicht. Der Kläger forderte die Beklagte mit Schreiben vom 30. Januar 2017 zur Übernahme der Krankenbehandlungskosten auf, was die Beklagte am 2. Februar 2017 ablehnte. Mit Schreiben vom 22. Februar 2017 verlangte das Krankenhaus vom Kläger Zahlung von 1.897,04 € zuzüglich Bearbeitungskosten von 5 €.
[3] Der Kläger ist der Auffassung, eine Aufrechnung gegenüber Leistungsansprüchen im Notlagentarif sei unzulässig. Das Amtsgericht hat seine auf Zahlung von 1.902,04 € nebst Zinsen sowie Freistellung von Rechtsanwaltsgebühren gerichtete Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung ist erfolglos geblieben. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
Entscheidungsgründe:
[4] Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
[5] I. Das Berufungsgericht, dessen Entscheidung in VersR 2018, 925, 927 f. veröffentlicht ist, hat ausgeführt, dem Kläger stehe infolge der erklärten Aufrechnung kein Leistungsanspruch in Höhe von 1.897,04 € aus der zwischen den Parteien bestehenden privaten Krankenversicherung zu. Die Aufrechnung der Beklagten sei wirksam. Ein kodifiziertes Aufrechnungsverbot sei nicht gegeben. Vielmehr ergebe sich aus § 35 VVG, dass der Versicherer eine fällige Prämienforderung gegenüber Ansprüchen des Versicherungsnehmers aufrechnen dürfe. Ein Aufrechnungsverbot ergebe sich auch nicht aus einer Gesamtschau der maßgeblichen Vorschriften oder dem Regelungszweck. Hintergrund der Schaffung des Notlagentarifs sei der vorübergehende Schutz des Versicherungsnehmers vor weiterer Überschuldung durch zukünftig anfallende Prämien, nicht aber die Befreiung von der Zahlungspflicht schon angefallener Prämien für die Ruhenszeit. Die Aufrechnung beseitige auch nicht einen effektiven Versicherungsschutz. Der Behandlungsanspruch des Versicherten bleibe bestehen, die Kündigung einer Pflichtversicherung im Sinne des § 193 VVG durch den Versicherer sei gemäß § 206 VVG unzulässig. Hilfsbedürftige Personen im Sinne des Sozialgesetzbuches könnten nach der gesetzlichen Regelung ohnehin nicht in den Notlagentarif geraten. Das Ruhen des vereinbarten Tarifs trete nämlich nach § 193 Abs. 6 Satz 5 VVG nicht ein bzw. ende, wenn Bedürftigkeit nach dem Sozialgesetzbuch bestehe. Hiernach drohe kein Entzug der medizinischen Grundversorgung; der Notlagentarif solle diese gar nicht gewährleisten, sondern betreffe allein den säumigen Versicherungsnehmer, nicht den Hilfsbedürftigen.
[6] II. Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Nachprüfung stand. Im Notlagentarif der privaten Krankenversicherung ist der Versicherer nicht gehindert, mit vollständigen Beiträgen gegen Kostenerstattungsansprüche des Versicherungsnehmers aufzurechnen.
[7] 1. Der Kläger ist seit dem 1. September 2016 bei der Beklagten im so genannten Notlagentarif gemäß § 193 Abs. 6 und 7 VVG versichert. Die Neuregelung des § 193 Abs. 6 bis 9 VVG wurde mit Wirkung zum 1. August 2013 durch das Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15. Juli 2013 eingeführt (BGBl. I S. 2423). Sie erfolgte, weil aus Sicht des Gesetzgebers die bisherigen Vorschriften mit der Fortsetzung einer Versicherung im Basistarif bei ausstehenden Beitragsschulden aufgrund der zum Teil hohen Beitragsforderungen zu einer weiteren Überschuldung der Versicherungsnehmer geführt hätten. In der Praxis habe sich die bisherige Regelung zum Teil als unzweckmäßig erwiesen. Ziel der Neuregelung ist es daher, die Beitragsschuldner vor weiterer Überschuldung zu schützen, gleichzeitig ihre Notfallversorgung zu gewährleisten und das Kollektiv der Versichertengemeinschaft finanziell zu entlasten (BT-Drucks. 17/13079 S. 1, 6; 17/13947 S. 31 f.; vgl. ferner Senatsurteil vom 6. Juli 2016 - IV ZR 169/15, VersR 2016, 1107 Rn. 25; OLG Oldenburg VersR 2017, 872, 873 [juris Rn. 12]).
[8] 2. In Rechtsprechung und Schrifttum wird die Frage, ob der Versicherer berechtigt ist, gegenüber Ansprüchen des Versicherungsnehmers auf Versicherungsleistungen aus dem Notlagentarif mit rückständigen Prämien aufzurechnen, unterschiedlich beurteilt.
[9] a) Teilweise wird eine derartige Aufrechnung für unzulässig erachtet (vgl. OLG Hamm VersR 2018, 925; Reiff in Prölss/Martin, VVG 30. Aufl. § 35 Rn. 2; HK-VVG/Marko, 3. Aufl. § 193 Rn. 82; Brömmelmeyer in Schwintowski/Brömmelmeyer, PK-VersR 3. Aufl. § 193 VVG Rn. 71; Wiemer, VersR 2016, 181; Laux, jurisPR-VersR 11/2016 Anm. 3; vgl. ferner LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25. Januar 2018 - L 5 P 81/16, juris Rn. 22-25 für die private Pflegepflichtversicherung; vgl. in diese Richtung ferner LG Köln VersR 2014, 993, 994 [juris Rn. 18]). Begründet wird dies im Wesentlichen damit, nur durch ein Aufrechnungsverbot könne ein Mindestmaß an Versorgung des Versicherungsnehmers erreicht werden. Wäre der Versicherer zur Aufrechnung mit rückständigen Prämienforderungen berechtigt, so würde der Schutz des Versicherungsnehmers aus dem Notlagentarif faktisch entwertet und er müsste die Notfallleistungen gegenüber den medizinischen Leistungserbringern selbst übernehmen. Sei der Versicherer zur Aufrechnung berechtigt, bis sämtliche Prämienrückstände getilgt seien, so führe dies nach § 193 Abs. 9 Satz 1 VVG ohnehin zu einer Beendigung des Vertrages im Notlagentarif mit der Folge der Fortsetzung des Vertrages in dem vor dem Ruhen des Vertrages geltenden Tarif.
[10] Ein anderer Teil der Rechtsprechung und des Schrifttums hält demgegenüber auch im Notlagentarif eine Aufrechnung des Versicherers mit rückständigen Prämienforderungen für zulässig (vgl. OLG Jena VersR 2016, 1242, 1243 f. [juris Rn. 21-40]; LG Gera VersR 2015, 1413, 1414; LG Mainz, Beschluss vom 20. Juni 2018 - 4 S 1/18, nicht veröffentlicht; LG Ravensburg, Beschluss vom 25. August 2016 - 1 O 77/16, nicht veröffentlicht; Muschner in Langheid/Rixecker, VVG 5. Aufl. § 193 Rn. 88a; Voit in Prölss/Martin, VVG 30. Aufl. § 193 Rn. 40; Reinhard in Looschelders/Pohlmann, VVG 3. Aufl. § 193 Rn. 39; HK-VAG/Brand, § 153 Rn. 21; BeckOK-VAG/Franz/Frey, § 153 Rn. 43a [Stand: 1. September 2018]; Erdmann, VersR 2015, 1414; Mandler, Die Aufrechnung im System der privaten Krankenversicherung, 2016, S. 417 ff.; offen gelassen von OLG Oldenburg VersR 2017, 872, 874 [juris Rn. 18]).
[11] b) Die letztgenannte Ansicht trifft zu.
[12] aa) Zunächst enthält der Wortlaut der Neuregelungen der § 193 Abs. 6 bis 9 VVG keinerlei Anordnung eines Aufrechnungsverbotes des Versicherers. Rechtsfolge des in § 193 Abs. 6 Satz 1 bis 3 VVG geregelten Prämienrückstandes ist das Ruhen des Vertrages nach § 193 Abs. 6 Satz 4 VVG. Dieses tritt allerdings nicht ein oder endet, wenn der Versicherungsnehmer oder die versicherte Person hilfebedürftig im Sinne des Zweiten oder Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ist oder wird (§ 193 Abs. 6 Satz 5 VVG). Solange der Vertrag ruht, gilt der Versicherungsnehmer als im Notlagentarif nach § 153 VAG versichert (§ 193 Abs. 7 Satz 1 VVG). Das Gesetz enthält sodann Einzelregelungen zur Ausgestaltung des Vertrages im Notlagentarif. Insbesondere entfallen Risikozuschläge, Leistungsausschlüsse und Selbstbehalte während dieser Zeit (§ 193 Abs. 7 Satz 2 VVG). Ferner ist ein Wechsel in den oder aus dem Notlagentarif ausgeschlossen (§ 193 Abs. 7 Satz 4 VVG). § 193 Abs. 8 VVG regelt weiter die Mitteilungen, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer im Einzelnen bei Fortsetzung des Vertrages im Notlagentarif zu machen hat. Der Wechsel in den Notlagentarif führt hierbei nicht dazu, dass die bisherigen Prämienrückstände entfallen. Vielmehr bleiben diese Forderungen des Versicherers bestehen. Dies ergibt sich im Umkehrschluss aus § 193 Abs. 9 Satz 1 VVG, wonach der Vertrag in dem Tarif fortgesetzt wird, in dem der Versicherungsnehmer vor Eintritt des Ruhens versichert war, wenn alle rückständigen Prämienanteile einschließlich der Säumniszuschläge und der Beitreibungskosten gezahlt sind.
[13] Auch aus § 153 VAG in der seit dem 1. Januar 2016 geltenden Fassung (bis 31. Dezember 2015: § 12h VAG) ergibt sich kein Aufrechnungsverbot für den Versicherer. Die Regelung bestimmt, dass die Nichtzahler nach § 193 Abs. 7 VVG einen eigenständigen Tarif bilden. Der Notlagentarif sieht ausschließlich die Aufwendungserstattung für Leistungen vor, die zur Behandlung von akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft erforderlich sind (§ 153 Abs. 1 Satz 2 VAG). Aus der Regelung in § 153 Abs. 2 Satz 6 VAG, wonach auf die im Notlagentarif zu zahlende Prämie die Alterungsrückstellung in der Weise anzurechnen ist, dass bis zu 25 Prozent der monatlichen Prämie durch Entnahme aus der Alterungsrückstellung geleistet werden, kann hierbei entgegen der Ansicht der Revision nicht geschlossen werden, dass der Versicherer in der gänzlich anders gearteten Fallgestaltung der Geltendmachung von Leistungsansprüchen des Versicherungsnehmers nicht mit rückständigen Prämienforderungen seinerseits aufrechnen dürfte (vgl. Mandler, Die Aufrechnung im System der privaten Krankenversicherung, 2016, S. 421 f.). § 153 Abs. 2 Satz 6 VAG enthält - trotz der Bezeichnung als Anrechnung - der Sache nach eine Sonderregelung für eine Aufrechnung, weil er die Aufrechnung mit noch nicht fälligen Gegenforderungen gegenüber dem monatlichen Prämienanspruch erlaubt. Ein Ausschluss der Aufrechnung des Versicherers mit fälligen Forderungen aus Beitragsrückständen gegen den vom Eintritt eines Leistungsfalls abhängigen Erstattungsanspruch des Versicherungsnehmers lässt sich aus dieser Vorschrift nicht herleiten.
[14] bb) Nichts anderes folgt aus der systematischen Stellung der Regelung über den Notlagentarif. Der gesetzlichen Regelung lässt sich an keiner Stelle ein Aufrechnungsverbot für den Versicherer gegenüber Leistungsansprüchen des Versicherungsnehmers im Notlagentarif entnehmen.
[15] (1) Die grundsätzliche Zulässigkeit der Aufrechnung mit einer Prämienforderung des Versicherers ergibt sich zunächst aus § 394 Satz 2 BGB. Zwar findet eine Aufrechnung, soweit eine Forderung der Pfändung nicht unterworfen ist, gegen diese nicht statt (§ 394 Satz 1 BGB). Gegen die aus Kranken-, Hilfs- oder Sterbekassen, insbesondere aus Knappschaftskassen und Kassen der Knappschaftsvereine, zu beziehenden Hebungen können aber geschuldete Beiträge aufgerechnet werden (§ 394 Satz 2 BGB). Hieraus wird überwiegend geschlossen, dass der Versicherer berechtigt ist, ausnahmsweise auch gegen eigentlich gemäß § 850 b Abs. 1 Nr. 4 ZPO unpfändbaren Forderungen aufzurechnen (vgl. OLG Jena VersR 2016, 1242, 1243 f. [juris Rn. 29, 38]; Muschner in Langheid/Rixecker, VVG 5. Aufl. § 193 Rn. 88a; Voit in Prölss/Martin, VVG 30. Aufl. § 193 Rn. 40; HK-VAG/Brand, § 153 Rn. 21; vgl. auch MünchKomm-BGB/Schlüter, 3. Aufl. § 394 Rn. 18; einschränkend BeckOK-BGB/Dennhardt, § 394 Rn. 16 [Stand: 1. August 2018]).
[16] (2) § 35 VVG steht einer Aufrechnung durch den Versicherer ebenfalls nicht entgegen. Hiernach kann der Versicherer eine fällige Prämienforderung oder eine andere ihm aus dem Vertrag zustehende fällige Forderung gegen eine Forderung aus der Versicherung auch dann aufrechnen, wenn diese Forderung nicht dem Versicherungsnehmer, sondern einem Dritten zusteht. Entgegen der Auffassung der Revision findet § 35 VVG auch in der Krankenversicherung Anwendung (Reiff in Prölss/
Martin, VVG 30. Aufl. § 35 Rn. 2; Rixecker in Langheid/Rixecker, VVG 5. Aufl. § 35 Rn. 3; Pilz in Schwintowski/Brömmelmeyer, PK-VersR, 3. Aufl. § 35 VVG Rn. 4; Thessinga in Staudinger/Halm/Wandt, Versicherungsrecht 2. Aufl., § 35 VVG Rn. 1; a.A. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. Oktober 2009 - L 20 B 56/09 So ER, BeckRS 2009, 73630 unter II 3 a; MünchKomm-VVG/Staudinger 2. Aufl. § 35 Rn. 3; Stagl/Brand in Looschelders/Pohlmann, VVG 3. Aufl. § 35 Rn. 6). § 194 VVG, der eine Regelung zu den anzuwendenden Vorschriften in der Krankenversicherung enthält, schließt § 35 VVG nicht von der Anwendbarkeit aus.
[17] Die private Krankenversicherung ist auch - anders als die Revision meint - keine Pflichtversicherung im Sinne von §§ 113 ff. VVG mit der Folge eines Ausschlusses der Aufrechnung nach § 35 VVG (§ 121 VVG). Die §§ 113 ff. VVG finden ausschließlich auf eine Haftpflichtversicherung gemäß §§ 100 ff. VVG Anwendung. Nur dort ist die Anwendung von § 35 VVG ausgeschlossen. Eine Übertragung auf andere Versicherungsarten kommt nicht in Betracht (vgl. Senatsurteil vom 6. Dezember 2000 - IV ZR 28/00, VersR 2001, 235 unter I 2 b [juris Rn. 15, 18] zu § 35b VVG a.F.). Eine entsprechende Anwendung dieses Aufrechnungsverbots auf die private Krankenversicherung scheidet schon deshalb aus, weil anders als bei der Pflichtversicherung ein Direktanspruch gemäß § 115 VVG im Rahmen des Notlagentarifs gemäß § 193 Abs. 6 und 7 VVG nicht besteht. Die §§ 113, 121 VVG bezwecken auch nur den Schutz des außerhalb des Versicherungsverhältnisses stehenden Dritten, nicht aber des Versicherungsnehmers (vgl. MünchKomm-VVG/Brand, 2. Aufl. § 121 Rn. 1).
[18] cc) Ferner ergibt sich ein Aufrechnungsverbot auch nicht aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes (so zu Recht OLG Jena VersR 2016, 1242, 1243 f. [juris Rn. 32]). Den Gesetzesmaterialien zu dem Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung in der 17. Legislaturperiode lässt sich an keiner Stelle entnehmen, dass der Gesetzgeber dem Versicherer die Aufrechnung mit Prämienansprüchen gegenüber Leistungsansprüchen des Versicherungsnehmers untersagen wollte (vgl. BT-Drucks. 17/13079 S. 1, 6 f., 9 f.; 17/13947 S. 31 f.). Hierfür ergibt sich auch nichts aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage in der 16. Legislaturperiode (vgl. BT-Drucks. 16/13892 S. 33). Die Antwort der Bundesregierung zur Unzulässigkeit einer Aufrechnung der eingereichten Rechnungen des Versicherten mit den noch ausstehenden Beitragszahlungen bezog sich allein auf die seinerzeit gültige Regelung für den Basistarif und ist für die Willensbildung des Gesetzgebers in der 17. Legislaturperiode mit der Einführung des Notlagentarifs ohne Aussagekraft.
[19] dd) Schließlich gebieten auch der Sinn und Zweck des Gesetzes nicht, dem Versicherer die Aufrechnung mit Prämienforderungen gegenüber Leistungsansprüchen des Versicherungsnehmers aus dem Notlagentarif zu untersagen. Ziel der Einführung des Notlagentarifs war es, die Beitragsschuldner vor weiterer Überschuldung zu schützen, gleichzeitig ihre Notfallversorgung zu gewährleisten und das Kollektiv der Versichertengemeinschaft finanziell zu entlasten (BT-Drucks. 17/13079 S. 6). Diese Ziele werden auch im Falle einer zulässigen Aufrechnung nicht vereitelt.
[20] (1) Eine weitere Überschuldung des Beitragsschuldners wird dadurch vermieden, dass die Versicherung nicht im bisherigen Tarif oder im Basistarif, sondern im Notlagentarif mit geringeren Beiträgen fortgesetzt wird. Entsprechend wird einer weiteren Überschuldung für die Zukunft vorgebeugt. Demgegenüber führt der Notlagentarif - wie bereits ausgeführt - nicht dazu, dass auch die bisherigen Prämienforderungen des Versicherers untergehen. Diese bleiben vielmehr, wie sich aus § 193 Abs. 9 Satz 1 VVG ergibt, erhalten. Ziel des Notlagentarifs mit der Herabsetzung der Beitragspflicht ist es gerade auch, dem Versicherungsnehmer die Bezahlung rückständiger Prämien aus der Zeit vor der Ruhendstellung des Vertrages zu ermöglichen. Kommt es hierzu, so wird der Vertrag gemäß § 193 Abs. 9 Satz 1 VVG im bisherigen Tarif fortgesetzt.
[21] (2) Auch das vom Gesetzgeber vorgesehene Ziel einer Notfallversorgung wird erreicht, ohne dass es eines Aufrechnungsverbots bedürfte. Der Gesetzgeber hat vielmehr hierfür durch verschiedene Regelungen gesorgt. Zunächst bleibt dem Versicherungsnehmer auch im Notlagentarif der Versicherungsschutz erhalten. Gemäß § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG, der von den Regelungen des Notlagentarifs unberührt bleibt, ist jede Kündigung einer Krankheitskostenversicherung, die eine Pflicht nach § 193 Abs. 3 Satz 1 VVG erfüllt, durch den Versicherer ausgeschlossen. Ist der Versicherungsnehmer wegen seiner finanziellen Verhältnisse nicht in der Lage, die Forderungen der Leistungserbringer selbst zu begleichen, so sieht das Gesetz - wie schon oben erwähnt - eine Lösung über § 193 Abs. 6 Satz 5 VVG vor. Hiernach tritt das Ruhen des Vertrages nicht ein oder endet, wenn der Versicherungsnehmer oder die versicherte Person hilfebedürftig im Sinne des Zweiten oder Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ist oder wird. Die Hilfebedürftigkeit ist auf Antrag des Versicherungsnehmers vom zuständigen Träger zu bescheinigen. Hilfebedürftige Personen kommen deshalb entweder gar nicht in den Notlagentarif oder fallen mit Eintritt der Hilfebedürftigkeit aus diesem heraus (vgl. OLG Jena VersR 2016, 1242, 1244 [juris Rn. 35]; Muschner in Langheid/Rixecker, VVG 5. Aufl. § 193 Rn. 88a; Reinhard in Looschelders/Pohlmann, VVG 3. Aufl. § 193 Rn. 39; Erdmann, VersR 2015, 1414, 1416). Der Notlagentarif ist mithin - anders als der Begriff nahelegt - von vornherein nicht der Tarif für einen bedürftigen Versicherungsnehmer, der grundsätzlich nicht in der Lage ist, seinen Verpflichtungen aus dem Versicherungsvertrag nachzukommen und dem wegen seiner finanziellen Verhältnisse Ansprüche auf Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch zustehen. Der Grund für die Nichtzahlung spielt beim Notlagentarif gerade keine Rolle. Es handelt sich bei ihm in der Sache um einen reinen Tarif für Nichtzahler, wie sich auch aus § 153 Abs. 1 Satz 1 VAG ergibt (OLG Jena VersR 2016, 1242 Rn. 36; Reinhard in Looschelders/Pohlmann aaO). Ist der Versicherungsnehmer im Einzelfall trotz fehlender Hilfebedürftigkeit im Sinne von § 193 Abs. 6 Satz 5 VVG nicht in der Lage und/oder willens, Forderungen medizinischer Leistungserbringer selbst zu bezahlen, weil der Versicherer seine Leistungspflicht aus dem Notlagentarif nicht durch Bezahlung der Forderung des Leistungserbringers oder durch Freistellung erfüllt, sondern durch Aufrechnung mit ihm weiterhin zustehenden Prämienforderungen, fällt dies in seinen Risikobereich. Der Notlagentarif ist hierfür nicht vorgesehen, was sich schon daraus ergibt, dass er neben der Gewährleistung der Notfallversorgung, die er durch § 193 Abs. 6 Satz 5 VVG sichert, auch das Kollektiv der Versichertengemeinschaft entlasten soll (vgl. BT-Drucks. 17/13079 S. 1, 6).
[22] (3) Hätte der Gesetzgeber über den Ausschluss des Kündigungsrechts gemäß § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG sowie von Risikozuschlägen, Leistungsausschlüssen und Selbstbehalten gemäß § 193 Abs. 7 Satz 2 VVG hinaus dem Versicherer trotz seines fortbestehenden Anspruchs auf Bezahlung der rückständigen Prämien das Recht nehmen wollen, mit seinem Anspruch auf rückständige Prämienleistungen gegenüber Leistungsansprüchen des Versicherungsnehmers aus dem Notlagentarif aufzurechnen, hätte er dies ausdrücklich normieren müssen, was er aber nicht getan hat.
[23] Entgegen der Auffassung der Revision ist auch kein Raum für eine Korrektur der gesetzlichen Regelung im Wege allgemeiner Billigkeitserwägungen oder nach Treu und Glauben. Dies gilt schon deshalb, weil der Gesetzgeber eine Regelung getroffen hat, die vor dem dargestellten Hintergrund keine planwidrige Lücke erkennen lässt. Dieses Fehlen einer planwidrigen Regelungslücke kann nicht über die vom Gesetzgeber bereits in § 193 Abs. 6 Satz 5 VVG vorgesehene Regelung hinaus korrigiert werden. Der Gesetzgeber hat - etwa anders als beim Basistarif in § 192 Abs. 7 VVG - beim Notlagentarif dem Leistungsträger auch keinen Anspruch auf unmittelbare Leistungserstattung gegen den Versicherer eingeräumt (zur ebenfalls streitigen Frage einer Aufrechnungsmöglichkeit des Versicherers im Basistarif vgl. Voit in Prölss/Martin, VVG 30. Aufl. § 192 Rn. 225). § 193 Abs. 6 bis 9 VVG kann entgegen der Ansicht der Revision keine gesetzgeberische Willensentscheidung des Inhalts entnommen werden, dass die privatrechtliche Vollstreckung per Aufrechnung mit Kostenerstattungsansprüchen für Heilbehandlungen abschließend durch das Ruhen der Leistungen und die Umstellung in den Notlagentarif ersetzt werden soll. Von einer vollständigen Aushöhlung des Notlagentarifs kann - wie oben im Einzelnen gezeigt nicht gesprochen werden, wenn dem Versicherer weiterhin das Recht zur Aufrechnung mit Prämienansprüchen zusteht. Immerhin führt die zügige Begleichung der Prämienrückstände dazu, dass der Versicherungsnehmer zeitnah wieder in seinen ursprünglichen Tarif mit einem umfassenderen Leistungsspektrum als es der Notlagentarif vorsieht, zurückkehren kann (§ 193 Abs. 9 Satz 1 VVG).
Mayen Prof. Dr. Karczewski Lehmann
Dr. Brockmöller Dr. Bußmann