BGH, Urteil vom 5. Dezember 2023 - VI ZR 108/21

17.01.2024

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

Verkündet am:

5. Dezember 2023

Böhringer-MangoldJustizamtsinspektorinals Urkundsbeamtinder Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: ja

BGHR: ja


BGB § 630h, § 823 Aa; ZPO § 286 B, G


a) Einer ordnungsgemäßen, zeitnah erstellten Dokumentation in Papierform, die keinen Anhalt für Veränderungen, Verfälschungen oder Widersprüchlichkeiten bietet, kommt zugunsten der Behandlungsseite Indizwirkung zu, die im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO zu berücksichtigen ist.

b) In die Beweiswürdigung sind alle vom Beweisgegner vorgebrachten Gesichtspunkte einzubeziehen. Der Beweisgegner muss nicht die inhaltliche Richtigkeit der Dokumentation widerlegen. Ihm obliegt nicht der Beweis des Gegenteils. Vielmehr genügt es, wenn er Umstände dartut, die bleibende Zweifel daran begründen, dass das Dokumentierte der Wahrheit entspricht, das Beweisergebnis also keine Überzeugung im Sinne von § 286 ZPO rechtfertigt. So verhält es sich insbesondere, wenn der Beweisgegner Umstände aufzeigt, die den Indizwert - die abstrakte Beweiskraft - der Dokumentation in Frage stellen.

c) An dem erforderlichen Indizwert der Dokumentation fehlt es dann, wenn der Dokumentierende Umstände in der Patientenakte festgehalten hat, die sich zu Lasten des im konkreten Fall in Anspruch genommenen Mitbehandlers (Beweisgegners) auswirken, und nicht ausgeschlossen werden kann, dass dies aus eigenem Interesse an einer Vermeidung oder Verringerung der eigenen Haftung erfolgt ist.


BGH, Urteil vom 5. Dezember 2023 - VI ZR 108/21 - OLG Koblenz, LG Trier


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 5. Dezember 2023 durch den Vorsitzenden Richter Seiters, die Richterinnen von Pentz und Dr. Oehler, den Richter Dr. Klein sowie die Richterin Dr. Linder

für Recht erkannt:

Auf die Revision der Beklagten zu 1 bis 4 wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 17. März 2021 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

[1] Die Klägerinnen begehren als Träger der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung Schadensersatz aus übergegangenem Recht des bei ihnen versicherten Kindes J. wegen behaupteter Behandlungsfehler bei dessen Geburt.

[2] Die Mutter von J. suchte am 10. September 2009 um 8.00 Uhr bei einsetzender Wehentätigkeit das Krankenhaus auf, in dem die Beklagte zu 1 als eine in Form der Gesellschaft bürgerlichen Rechts betriebene Gemeinschaftspraxis eine gynäkologische und geburtshilfliche Belegabteilung unterhält. Die Beklagten zu 2 und 3 sind die persönlich haftenden Gesellschafter der Beklagten zu 1. Der Beklagte zu 4 war zur Zeit der Behandlung als Assistenzarzt in Weiterbildung bei der Beklagten zu 1 angestellt. Die ehemalige Beklagte zu 5 war in dem Krankenhaus als Beleghebamme tätig und nahm auf Wunsch der bei den Klägerinnen versicherten Kindesmutter auf der Grundlage eines entsprechenden Hebammenvertrags die Betreuung der Geburt wahr.

[3] Beim Eintreffen der Mutter in der Klinik wurde diese zunächst von einer im Krankenhaus angestellten Hebamme betreut. Eine ärztliche Eingangsuntersuchung fand nicht statt. Um 11.00 Uhr übernahm die ehemalige Beklagte zu 5 (nachfolgend: Beleghebamme) die Betreuung der Mutter. Sie schrieb mehrfach ein CTG, das ab 15.00 Uhr pathologisch, ab 15.30 Uhr eindeutig pathologisch und ab 15.55 Uhr hochpathologisch war. Die Beleghebamme reagierte hierauf allerdings nicht. In der von ihr geführten Dokumentation ist für 19.10 Uhr vermerkt: "(...) DIP I, H. S.[...] [Beklagter zu 4] CTG gezeigt (...)". Um 19.36 Uhr rief die Beleghebamme den Beklagten zu 4 an und bat ihn, vorbeizukommen. Der Beklagte zu 4 traf spätestens um 19.45 Uhr im Kreißsaal ein und stellte fest, dass das CTG eine Bradykardie zeigte. Er nahm eine medikamentöse Notfalltokolyse vor und informierte den Beklagten zu 2. Dieser ordnete zunächst eine eilige und nach einem weiteren massiven Abfall der Herztöne eine Notsectio an. J. wurde um 20.20 Uhr geboren. Ein Operationsbericht über den Kaiserschnitt existiert nicht. Es liegen jedoch am Folgetag gefertigte Berichte der Beklagten zu 2 und 4 vor. Im Bericht des Beklagten zu 2 heißt es auszugsweise: "Nach Eintreffen von Frau K. [...] [Beleghebamme] (Uhrzeit?) wird Frau G.[...] von der Hebamme übernommen und ausschließlich von ihr betreut. Über die weiteren Schritte, die von Frau K.[...] durchgeführt werden sowie über das CTG werden keine Informationen an Herrn S.[...] [Beklagter zu 4] und mich weitergegeben. Um 18.00 Uhr frage ich bei der Hebamme nach dem Befund und dem CTG nach. Mir wird mitgeteilt, dass der Muttermund 7 cm eröffnet ist, im CTG habe es einen DIP gegeben. Es sei jetzt aber wieder alles völlig in Ordnung. Um 19.55 Uhr werde ich dann von Herrn S. [... ] angerufen, dass ich bitte sofort in den Kreißsaal kommen möchte. (...) Aufgrund von immer wiederkehrenden Dezelerationen und dem Untersuchungsbefund Entschluss zur Sectio caesarea. Während der Vorbereitungen zur Sectio kommt es zu einem weiteren massiven Herztonabfall. Um 20.15 Uhr lassen sich die Herztöne des Kindes nicht mehr finden, deshalb sofortiger Entschluss zur Notsectio. Um 20.20 Uhr wird dann ein schlaffes Neugeborenes entwickelt, welches an den anwesenden Anästhesisten übergeben wird (...)".

[4] Im Bericht des Beklagten zu 4 heißt es auszugsweise: "Von der stationären Aufnahme der Patientin bis 19.36 Uhr war ich informiert: Um 16.20 Uhr Blasensprung und Muttermund bis auf 7 cm weit geöffnet. Keine Informationen über CTG. Um 19.36 Uhr wurde ich von Frau K. [...] angerufen, der Muttermund ist vollständig, sonst keine anderen Informationen am Telefon. Neun Minuten später bin ich im Kreißsaal vor Ort angekommen. CTG: Bradykardie. (...) Info an Herrn Dr. med. A. [...] [Beklagter zu 2] über CTG und Befund. Dr. A. [...] trifft 8 Minuten später im Kreißsaal ein."

[5] Das Kind war bei seiner Entbindung leblos, ohne eigene Atmung und ohne Muskeltonus. Es wurde von dem die Geburt betreuenden Anästhesisten reanimiert und um 20.35 Uhr von dem pädiatrischen Notdienst übernommen. Es leidet unter einer irreversiblen Hirnschädigung, aufgrund derer die Klägerinnen Leistungen in der Kranken- und Pflegeversicherung erbrachten und weiter erbringen.

[6] Das Landgericht hat die Leistungsklagen der Klägerinnen gegen die Beleghebamme dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und deren Ersatzverpflichtung festgestellt. Die Hebamme habe grob behandlungsfehlerhaft nicht auf den dokumentierten Geburtsverlauf und das hochpathologische CTG reagiert. Spätestens um 15.55 Uhr habe eine zwingende Indikation bestanden, den diensthabenden Arzt zu informieren. Insoweit ist das Urteil rechtskräftig. Die gegen die Beklagten zu 1 bis 4 gerichteten Klagen hat das Landgericht abgewiesen. Es konnte sich nicht davon überzeugen, dass die Ärzte der Beklagten zu 1 die Geburtsleitung vor 19.45 Uhr übernommen hatten. Es konnte sich insbesondere nicht davon überzeugen, dass der Beklagte zu 4 das CTG um 19.10 Uhr gesehen hatte. Das einzige Indiz, das für eine Anwesenheit des Beklagten zu 4 zu diesem Zeitpunkt im Kreißsaal spreche, sei die auf ihre eigene schriftliche Dokumentation gestützte Darstellung der Beleghebamme. Dies reiche für die Überzeugung der Kammer angesichts der Angaben der Kindsmutter und der Anhörung der Beleghebamme nicht aus.

[7] Auf die Berufung der Klägerinnen hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert und die bezifferten Klageansprüche auch gegen die Beklagten zu 1 bis 4 für gerechtfertigt erklärt. Darüber hinaus hat das Oberlandesgericht die Ersatzverpflichtung der Beklagten zu 1 bis 4 festgestellt. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgen die Beklagten zu 1 bis 4 ihren Klageabweisungsantrag weiter.

Entscheidungsgründe:

[8] I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts haften die Beklagten zu 1 bis 4 den Klägerinnen aus gemäß § 116 Abs. 1 SGB X übergegangenem Recht für den Geburtsschaden des bei den Klägerinnen mitversicherten Kindes. Die Beklagte zu 1 hafte wegen Verletzung des mit der Mutter des Kindes geschlossenen Behandlungsvertrags, in dessen Schutzbereich das Kind einbezogen sei. Die Beklagte zu 1 müsse sich allerdings nicht die Fehler der Beleghebamme zurechnen lassen. Denn diese sei im relevanten Zeitraum nicht Erfüllungsgehilfin der Beklagten zu 1 gewesen. Vor 19.45 Uhr habe die Beklagte zu 1 die Verantwortung für die Leitung der Geburt nicht übernommen. Unstreitig sei eine ärztliche Eingangsuntersuchung der Kindsmutter nicht erfolgt. Der Beklagte zu 2 habe die Leitung der Geburt nicht um 18.00 Uhr übernommen. Unstreitig habe er sich zu diesem Zeitpunkt bei der Beleghebamme abgemeldet und diese bei Bedarf für ärztliche Unterstützung an den noch anwesenden Beklagten zu 4 verwiesen. Der Beklagte zu 2 habe die Kindsmutter weder untersucht noch eine Entscheidung bezüglich ihrer weiteren Behandlung getroffen. Etwas Anderes sei auch nicht dann anzunehmen, wenn er bei dieser Gelegenheit einen Blick auf das CTG geworfen habe, was zwischen den Parteien streitig sei. Denn hieraus hätte er dann ersichtlich keine Konsequenzen gezogen und wäre stattdessen gegangen. Dass der Beklagte zu 2 bei sorgfältigem Blick auf das CTG die Behandlung hätte übernehmen müssen, sei geeignet, eine Eigenhaftung des Beklagten zu 2 durch unterlassene Behandlungsübernahme zu begründen, führe aber nicht als solches zu einer Behandlungsübernahme.

[9] Eine Haftung der Beklagten zu 1 ergebe sich aber aus den Versäumnissen des Beklagten zu 4, der als angestellter Assistenzarzt deren Erfüllungsgehilfe gewesen sei. Er habe einen groben Behandlungsfehler dadurch begangen, dass er um 19.10 Uhr das hochpathologische CTG gesehen und gleichwohl nichts unternommen habe. Die entgegenstehende Feststellung des Landgerichts begegne Bedenken, da das Landgericht die Beweislast und insbesondere die Wirkung der anderslautenden Dokumentation der Beleghebamme verkannt habe. Denn dafür, dass die Beleghebamme dem Beklagten zu 4 das CTG um 19.10 Uhr gezeigt habe, spreche eine tatsächliche Vermutung. Eine ärztliche Dokumentation indiziere nicht nur, dass nicht erwähnte dokumentationspflichtige Maßnahmen unterblieben seien, sondern auch, dass die in der Dokumentation genannten Behandlungsmaßnahmen durchgeführt worden seien. Insofern sei der Inhalt der Dokumentation als richtig zu unterstellen, soweit nicht der Behandelnde das Gegenteil beweise, wenn der Patient sich auf die Richtigkeit der Dokumentation berufe. Dies gelte auch für die Dokumentation der Beleghebamme, in der um 19.10 Uhr vermerkt sei, dass sie das CTG dem Beklagten zu 4 gezeigt habe. Dem stehe nicht entgegen, dass die Dokumentation insoweit nicht von den Beklagten zu 1 bis 4 erstellt sei, sondern von der Beleghebamme. Denn es habe vorliegend keine gesonderte ärztliche Dokumentation des Geburtsverlaufs gegeben, sondern nur Berichte, die die Beklagten zu 2 und 4 am Folgetag nachträglich erstellt hätten. Diese seien im Angesicht der unbefriedigenden Entwicklung gefertigt worden und nicht geeignet, die Dokumentation der Beleghebamme zu widerlegen. Eine Widerlegung der Vermutung sei den Beklagten zu 1 bis 4 auch im Übrigen nicht gelungen. Die Kindeseltern hätten sich zwar nicht daran erinnern können, dass der Beklagte zu 4 um 19.10 Uhr da gewesen sei und auf das CTG geschaut habe. Auch der Beklagte zu 4 habe sich nicht mehr erinnern können. Er habe sich darauf berufen, dass er das CTG immer abzeichne, wenn er darauf schaue. Dies sei im vorliegenden Fall aber bereits dadurch widerlegt, dass er auch um 19.45 Uhr oder zu einem späteren Zeitpunkt das CTG nicht abgezeichnet habe, als er es angeschaut und die Bradykardie festgestellt habe. Auf dem CTG sei um 19.45 Uhr zwar vermerkt "Dr. S.[...] anwesend". Dies sei allerdings ein Eintrag der Beleghebamme und nicht des Beklagten zu 4. Der dem Beklagten zu 4 unterlaufene grobe Behandlungsfehler sei auch ursächlich für die Schädigung des bei den Klägerinnen versicherten Kindes geworden. Den Beklagten sei der Beweis nicht gelungen, dass das Kind die bei ihm eingetretene schwere hypoxisch-ischämische Hirnschädigung auch bei korrektem Vorgehen des Beklagten zu 4 erlitten hätte.

[10] Die Beklagten zu 2 und 3 hafteten analog nach § 128 HGB für die Verbindlichkeit der Beklagten zu 1. Ob dem Beklagten zu 2 darüber hinaus auch eigene Behandlungsfehler vorzuwerfen seien, bedürfe deshalb keiner Entscheidung. Der Beklagte zu 4 hafte unmittelbar deliktisch aus § 823 Abs. 1 BGB.

[11] II. Diese Ausführungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Mit der Begründung des Berufungsgerichts kann eine Haftung der Beklagten zu 1 bis 4 für den Geburtsschaden des bei den Klägerinnen versicherten Kindes nicht bejaht werden.

[12] 1. Das Berufungsgericht ist allerdings zu Recht davon ausgegangen, dass das Kind in den Schutzumfang des zwischen seiner Mutter und der Beklagten zu 1 zustande gekommenen Vertrags über die Erbringung geburtshilflicher Leistungen einbezogen ist und aus Pflichtverletzungen der für die Beklagte zu 1 tätig gewordenen Erfüllungsgehilfen, die zur Verletzung seiner Gesundheit vor oder während der Geburt führten, eigene Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte zu 1 herleiten kann (§ 280 Abs. 1, § 278 BGB, vgl. Senatsurteil vom 7. Dezember 2004 - VI ZR 212/03, BGHZ 161, 255, juris Rn. 22 mwN). Das Berufungsgericht hat auch zutreffend angenommen, dass die Beklagten zu 2 und 3 als persönlich haftende Gesellschafter der Beklagten zu 1 entsprechend § 128 HGB für etwaige Verbindlichkeiten der Gesellschaft akzessorisch haften (vgl. BGH, Urteile vom 29. Januar 2001 - II ZR 331/00, BGHZ 146, 341, juris Rn. 39; vom 24. Februar 2003 - II ZR 385/99, BGHZ 154, 88, juris Rn. 19 f.).

[13] 2. Die Revision wendet sich aber mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, dem von der Beklagten zu 1 zur Erbringung der ihr obliegenden ärztlichen Leistungen der Geburtshilfe eingesetzten Beklagten zu 4 sei deshalb ein Behandlungsfehler unterlaufen, weil er das hochpathologische CTG um 19.10 Uhr zur Kenntnis genommen und gleichwohl zunächst nichts unternommen habe. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft den Beklagten die Beweislast dafür auferlegt, dass der Beklagte zu 4 das CTG nicht bereits um 19.10 Uhr gesehen hat.

[14] a) Wie das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zutreffend angenommen hat, ist es grundsätzlich Sache des Anspruchstellers, einen behaupteten Behandlungsfehler des Arztes nachzuweisen (vgl. Senatsurteile vom 27. April 2021 - VI ZR 84/19, BGHZ 229, 331 Rn. 13; vom 21. Dezember 2010 - VI ZR 284/09, BGHZ 188, 29 Rn. 19; vom 22. Oktober 2019 - VI ZR 71/17, VersR 2020, 233 Rn. 8). Das Berufungsgericht hat sich zu einer positiven Feststellung des angenommenen Behandlungsfehlers nicht in der Lage gesehen. Nach seinen Ausführungen kann nicht festgestellt werden, dass der Beklagte zu 4 das CTG auf Bitten der Beleghebamme um 19.10 Uhr in Augenschein genommen hat. Es liege vielmehr eine "unklare Beweislage" vor.

[15] b) Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht eine Umkehr der Beweislast zugunsten der Klägerinnen daran geknüpft, dass in der Dokumentation des Geburtsverlaufs durch die Beleghebamme für 19.10 Uhr vermerkt ist, sie habe das CTG dem Beklagten zu 4 gezeigt. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist der Inhalt der Dokumentation nicht zugunsten des Beweisführers als richtig zu unterstellen, soweit nicht der Beweisgegner das Gegenteil beweist. Eine derart weitgehende Wirkung kommt der Dokumentation des Behandlungsgeschehens nicht zu.

[16] aa) Die Dokumentation des Behandlungsgeschehens in Papierform ist eine Urkunde im Sinne der §§ 415 ff. ZPO (vgl. Walter, NJW 2021, 2367 sowie allgemein zum Begriff der Urkunde: Huber in Musielak/Voit, ZPO, 20. Aufl., § 415 Rn. 4 mwN). Dabei wird es sich in der Regel - so auch bei dem von der Beleghebamme im Streitfall erstellten Geburtsprotokoll - um eine Privaturkunde im Sinne des § 416 ZPO handeln. Eine von ihrem Aussteller unterschriebene Privaturkunde begründet nach § 416 ZPO vollen Beweis allein dafür, dass die in der Urkunde enthaltenen Erklärungen von dem Aussteller abgegeben worden sind. Die Beweisregel erstreckt sich dagegen nicht auf die inhaltliche Richtigkeit des Erklärten. Ob die in der Privaturkunde enthaltenen Angaben zutreffen, insbesondere ob die darin bezeugten tatsächlichen Vorgänge wirklich so geschehen sind oder nicht, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und unterliegt der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO (vgl. BGH, Urteile vom 27. September 2018 - VII ZR 45/17, NJW 2019, 421 Rn. 36; vom 22. Mai 2014 - I ZR 109/13, VersR 2015, 341 Rn. 21; vom 17. April 1986 - III ZR 215/84, juris Rn. 12; Beschluss vom 12. März 2015 - V ZR 86/14, NJW-RR 2015, 819 Rn. 13, vgl. zum Operationsbericht: Senatsurteil vom 16. April 2013 - VI ZR 44/12, VersR 2013, 1045 Rn. 10 f.). In diese Würdigung sind jedenfalls bei einer Privaturkunde, die tatsächliche Vorgänge bezeugt, auch alle vom Beweisgegner im Wege des Gegenbeweises vorgebrachten Gesichtspunkte einzubeziehen; der Beweisgegner muss nicht die inhaltliche Richtigkeit des in der Urkunde Erklärten widerlegen. Vielmehr genügt es, wenn er dartut, dass die inhaltliche Richtigkeit zweifelhaft bleibt, das Beweisergebnis also keine Überzeugung im Sinne von § 286 ZPO rechtfertigt (vgl. BGH, Urteil vom 22. Mai 2014 - I ZR 109/13, VersR 2015, 341 Rn. 21; Foerste in Musielak/Voit, ZPO, 20. Aufl., § 284 Rn. 6; Berger in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl., Vorbemerkungen vor § 415 Rn. 19; zu über ein Rechtsgeschäft aufgenommenen Urkunden vgl. BGH, Urteile vom 10. Juni 2016 - V ZR 295/14, WM 2018, 475; vom 5. Juli 2002 - V ZR 143/01, NJW 2002, 3164, juris Rn. 7; vom 29. November 1989 - VIII ZR 228/88, BGHZ 109, 240, juris Rn. 11). Allerdings können die auf Grund der Beweisregel des § 416 ZPO formell erwiesenen Erklärungen - je nach ihrem Inhalt - geeignet sein, dem Tatrichter allein oder im Zusammenhang mit weiteren Umständen die Überzeugung davon zu verschaffen, dass die in der Urkunde aufgeführten Tatsachen und Vorgänge der Wirklichkeit entsprechen (vgl. BGH, Urteil vom 13. April 1988 - VIII ZR 274/87, BGHZ 104, 172, juris Rn. 11; Huber in Musielak/Voit, ZPO, 20. Aufl., § 416 Rn. 4; Berger in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl., Vorbemerkungen vor § 415 Rn. 19 f.).

[17] bb) Dementsprechend haben der Senat und die überwiegende oberlandesgerichtliche Rechtsprechung einer ordnungsgemäßen, zeitnah erstellten Dokumentation in Papierform, die keinen Anhalt für Veränderungen, Verfälschungen oder Widersprüchlichkeiten bietet, zugunsten der Behandlungsseite Indizwirkung beigemessen, die im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO zu berücksichtigen ist (vgl. Senatsurteile vom 14. März 1978 - VI ZR 213/76, VersR 1978, 542, juris Rn. 24 f.; vom 16. April 2013 - VI ZR 44/12, VersR 2013, 1045 Rn. 11; vom 22. Oktober 2019 - VI ZR 71/17, VersR 2020, 233 Rn. 14; vom 27. April 2021 - VI ZR 84/19, BGHZ 229, 331 Rn. 28 sowie die umfassenden Nachweise zur oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung bei Staudinger/Gutmann, BGB, Neubearbeitung 2021, § 630h Rn. 130; vgl. zur Indizwirkung eines mechanischen Datenblatts der Verwaltung: Senatsurteil vom 3. Februar 1998 - VI ZR 356/96, VersR 1998, 634, juris Rn. 11). Eine in diesem Sinne vertrauenswürdige Dokumentation kann dem Tatrichter die Überzeugung davon vermitteln, dass die dokumentierten Maßnahmen tatsächlich getroffen worden sind. Ihr darf der Tatrichter im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO grundsätzlich Glauben schenken.

[18] Auch hier gilt aber, dass in die Beweiswürdigung alle vom Beweisgegner vorgebrachten Gesichtspunkte einzubeziehen sind. Der Beweisgegner muss nicht die inhaltliche Richtigkeit der Dokumentation widerlegen. Ihm obliegt nicht der Beweis des Gegenteils. Vielmehr genügt es, wenn er Umstände dartut, die bleibende Zweifel daran begründen, dass das Dokumentierte der Wahrheit entspricht, das Beweisergebnis also keine Überzeugung im Sinne von § 286 ZPO rechtfertigt. So verhält es sich insbesondere, wenn der Beweisgegner Umstände aufzeigt, die den Indizwert - die abstrakte Beweiskraft - der Dokumentation in Frage stellen (vgl. Senatsurteil vom 27. April 2021 - VI ZR 84/19, BGHZ 229, 331 Rn. 28 f.; BGH, Urteile vom 13. Juli 2016 - IV ZR 292/14, juris Rn. 46, vom 14. Januar 1993 - IX ZR 238/91, NJW 1993, 935, juris Rn. 21; vgl. auch Spickhoff, NJW 2013, 1714, 1720). Ein Indizienbeweis ist nur überzeugungskräftig, wenn andere Schlüsse aus den Indiztatsachen ernstlich nicht in Betracht kommen. Die Hilfstatsache reicht für den Nachweis der Haupttatsache dann nicht aus und ist unerheblich, wenn das Indiz für sich allein und im Zusammenhang mit weiteren Indizien sowie dem sonstigen Sachverhalt nicht den ausreichend sicheren Schluss auf die Haupttatsache zulässt (BGH, Urteil vom 14. Januar 1993 - IX ZR 238/91, NJW 1993, 935, juris Rn. 21). Sollte dem Senatsurteil vom 14. März 1978 (VI ZR 213/76, VersR 1978, 542, juris Rn. 24) diesbezüglich Anderes zu entnehmen sein, wird daran nicht festgehalten.

[19] An dem erforderlichen Indizwert der Dokumentation fehlt es jedenfalls dann, wenn der Dokumentierende Umstände in der Patientenakte festgehalten hat, die sich zu Lasten des im konkreten Fall in Anspruch genommenen Mitbehandlers (Beweisgegners) auswirken, und nicht ausgeschlossen werden kann, dass dies aus eigenem Interesse an einer Vermeidung oder Verringerung der eigenen Haftung erfolgt ist. In diesem Fall ist die Indiztatsache - die Dokumentation der jeweiligen Maßnahme - ambivalent. Sie lässt sich zwanglos sowohl mit dem vom Patienten zu haltenden Vortrag, der Dokumentierende habe die von ihm festgehaltene Maßnahme tatsächlich ergriffen, als auch mit dem von dem in Anspruch genommenen Mitbehandler zu erwartenden Vortrag vereinbaren, der Dokumentierende habe in Wirklichkeit nicht gegebene Umstände dokumentiert, um seine eigene Verantwortung für das Geschehen in Abrede zu stellen.

[20] cc) Eine andere Beurteilung folgt auch nicht aus § 630h Abs. 3 BGB. Abgesehen davon, dass diese Bestimmung erst mit Wirkung vom 26. Februar 2013 in Kraft getreten und deshalb im Streitfall noch nicht anwendbar ist, enthält sie nicht die Vermutung, dass eine dokumentierte Maßnahme tatsächlich durchgeführt worden ist. In dieser Bestimmung ist die bisherige Rechtsprechung zur Beweislastumkehr bei Dokumentationsversäumnissen kodifiziert worden. Im Einklang mit dieser knüpft sie beweisrechtliche Folgen lediglich daran, dass der Behandelnde eine medizinisch gebotene wesentliche Maßnahme und ihr Ergebnis entgegen § 630f BGB nicht in der Patientenakte aufgezeichnet oder die Patientenakte nicht aufbewahrt hat (vgl. Senatsurteil vom 27. April 2021 - VI ZR 84/19, BGHZ 229, 331 Rn. 27). Eine positive Beweisvermutung spricht die Norm nicht aus. Es besteht auch keine Veranlassung, den Anwendungsbereich des § 630h Abs. 3 BGB in Abkehr von der bisherigen Senatsrechtsprechung erweiternd dahin auszulegen, dass der Inhalt der Patientenakte zugunsten des Patienten als richtig fingiert wird, wenn nicht der Behandelnde das Gegenteil nachweist (so auch Spickhoff/Spickhoff, Medizinrecht, 4. Aufl., § 630h BGB Rn. 11; ders., NJW 2013, 1714, 1720; vgl. auch Gödicke MedR 2012, 531, 533; aA Wagner in MünchKomm/BGB, 9. Aufl., § 630h Rn. 67; Laumen, VersR 2023, 1481, 1488; offener Staudinger/Gutmann, BGB, Neubearbeitung 2021, § 630h Rn. 127, 130: "folgerichtige Erweiterung des Grundgedankens der Norm über ihren (klaren) Wortlaut hinaus" und "Indizwirkung einer ordnungsgemäßen Dokumentation" sowie der Hinweis auf das "zutr. Argument" von Gödicke MedR 2012, 531, 533, "dem Arzt dürften Beweisvorteile aus einer allein von ihm erstellten Privaturkunde erst zukommen, wenn die angegriffenen Punkte der Dokumentation so wie dokumentiert im Kontext des gesamten Behandlungsgeschehens auch zu überzeugen vermögen").

[21] 3. Das angegriffene Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Die Revisionserwiderung macht ohne Erfolg geltend, die Beklagte zu 1 müsse sich den groben Behandlungsfehler der Beleghebamme gemäß § 278 BGB zurechnen lassen.

[22] a) Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass der Belegarzt von dem Zeitpunkt an für Fehler der Beleghebamme einstehen muss, in dem die Leitung der Geburt zu seiner Vertragsaufgabe geworden ist (Senatsurteile vom 14. Februar 1995 - VI ZR 272/93, BGHZ 129, 6, juris Rn. 17; vom 6. Dezember 2022 - VI ZR 284/19, BGHZ 235, 369 Rn. 20). Wann dies der Fall ist, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab (vgl. Senatsurteil vom 14. Februar 1995 - VI ZR 272/93, BGHZ 129, 6, juris Rn. 19 f.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass es grundsätzlich zu den Aufgaben einer Hebamme gehört, eine Geburt ohne besondere Komplikationen selbständig zu betreuen. Das gilt aber nur so lange, bis ein Arzt die Behandlung übernommen hat; von diesem Zeitpunkt an ist die Hebamme seine Gehilfin, für die er vertraglich nach § 278 BGB und deliktisch nach § 831 BGB einstehen muss (vgl. Senatsurteile vom 16. Mai 2000 - VI ZR 321/98, BGHZ 144, 296, juris Rn. 10 f.; vom 6. Dezember 2022 - VI ZR 284/19, BGHZ 235, 369 Rn. 20 mwN).

[23] b) Die Revisionserwiderung macht ohne Erfolg geltend, der zur Erfüllung der Verpflichtungen der Beklagten zu 1 tätige Beklagte zu 2 habe die Geburtsleitung bereits um 18.00 Uhr übernommen. Nach den von der Revisionserwiderung nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts meldete sich der Beklagte zu 2 um diese Uhrzeit nach seinem Dienstende bei der Beleghebamme ab und verwies sie bei Bedarf für ärztliche Unterstützung an den noch anwesenden Beklagten zu 4; weder untersuchte er die Kindsmutter noch traf er eine Entscheidung bezüglich ihrer weiteren Behandlung. Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht hierin nicht die Übernahme der Behandlung durch den Beklagten zu 2 gesehen hat und zwar auch für den Fall, dass dieser einen kurzen Blick auf das CTG geworfen hat. Das Berufungsgericht musste diesen Sachverhalt entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung insbesondere nicht dahingehend würdigen, dass der Beklagte zu 2 den CTG-Befund damit auf Veranlassung der Hebamme ärztlich überprüft, sein ärztliches "Okay" gegeben und damit die Leitung der Geburt übernommen hatte.

[24] III. Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Aufgrund des Grundsatzes der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung erfasst die Aufhebung auch die Entscheidung des Berufungsgerichts über diejenigen Kosten, die durch die - jeweils zurückgenommenen - Berufungen der ehemaligen Beklagten zu 5 und der Klägerinnen in Bezug auf die ehemalige Beklagte zu 6 entstanden sind.

Seiters von Pentz Oehler

Klein Linder

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