IX ZR 7/06

21.12.2006

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

Verkündet am:

21. Dezember 2006

BürkJustizhauptsekretärinals Urkundsbeamtinder Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


InsO § 95 Abs. 1, § 96 Abs. 1 Nr. 1, § 110 Abs. 3


Die Aufrechnungsmöglichkeiten nach § 95 Abs. 1 InsO werden durch § 110 Abs. 3 InsO nicht beschränkt.


BGH, Urteil vom 21. Dezember 2006 - IX ZR 7/06 - LG Berlin, AG Spandau


Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren, in dem Schriftsätze eingereicht werden konnten bis 16. November 2006, durch den Vorsitzenden Richter Dr. Fischer, die Richter Raebel, Vill, Cierniak und die Richterin Lohmann

für Recht erkannt:

Auf die Rechtsmittel des Beklagten werden das Urteil der Zivilkammer 64 des Landgerichts Berlin vom 20. September 2005 aufgehoben und das Urteil des Amtsgerichts Spandau vom 19. April 2005 abgeändert, soweit zum Nachteil des Beklagten erkannt ist.

Die Klage wird insgesamt abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Mit Vertrag vom 15. Februar 2000 mietete der Beklagte von der B. (künftig: Schuldnerin) Gewerberäume in einem Haus in Berlin. Über das Vermögen der Schuldnerin wurde am 1. September 2001 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Kläger zum Verwalter bestellt.

Mit Schreiben vom 14. Mai 2002 und 22. Mai 2002 rechnete der Kläger die Nebenkosten für das Jahr 2000 ab. Es ergab sich ein Guthaben von 901,83 € (berichtigt: 876,61 €), das der Beklagte von der Miete für Juli 2002 in Abzug brachte. Aus der Nebenkostenabrechnung für den Zeitraum 1. Januar bis 31. August 2001 ergab sich ein Guthaben von 842,37 €, das der Beklagte mit den Mieten für Februar und März 2003 verrechnete.

Der Kläger ist der Ansicht, dass der Beklagte mit seinen Nebenkostenguthaben bezüglich der Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegen Mietzinsansprüche für danach liegende Zeiträume nicht aufrechnen könne, und hat den Beklagten auf Zahlung der Restmieten in Anspruch genommen.

Das Amtsgericht hat der Klage in Höhe der Aufrechnungsbeträge stattgegeben. Die Berufung des Beklagten blieb ohne Erfolg. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte sein Abweisungsbegehren in vollem Umfang weiter.

Entscheidungsgründe:

Die Revision hat Erfolg; sie führt zur Klageabweisung.

I. Das Berufungsgericht, dessen Urteil veröffentlicht ist in Grundeigentum 2006 S. 513, meint, die gegen die unstreitigen Mietzinsansprüche erklärten Aufrechnungen seien unwirksam. Gemäß § 110 Abs. 3 Satz 1 InsO bestehe im Fall der Insolvenz des Vermieters für den Mieter nur die Möglichkeit, für den Zeitraum des § 110 Abs. 1 InsO, dies wäre hier der September 2001 gewesen, mit Gegenforderungen aufzurechnen.

Eine Aufrechnungsmöglichkeit bestehe auch nicht gemäß § 110 Abs. 3 Satz 2, § 95 InsO über den September 2001 hinaus. Mietverhältnisse bestünden gemäß § 108 InsO mit Wirkung für die Insolvenzmasse fort. Zum Ausgleich dafür habe der Gesetzgeber die Aufrechnungsmöglichkeit in § 110 InsO begrenzt.

II. Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand.

1. Der Beklagte durfte gegen den Anspruch der Masse auf Zahlung der Mietzinsen für die Monate Juli 2002 sowie Februar und März 2003 gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO aufrechnen, nachdem die Voraussetzungen für die Aufrechnung - Fälligkeit des Anspruchs auf das Guthaben aus der Nebenkostenabrechnung und Erfüllbarkeit der Forderung der Masse - eingetreten war, § 387 BGB.

a) Der Anwendbarkeit des § 95 Abs. 1 InsO steht § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO nicht entgegen. § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO will die Aufrechnung erleichtern und geht der Regelung des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO vor (BGHZ 160, 1, 3; BGH, Urt. v. 11. November 2004 - IX ZR 237/03, ZIP 2005, 181).

b) Die Voraussetzungen des § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO liegen vor.

aa) § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO ist weit auszulegen. Er erfasst alle Fälle, in denen nur eine vertragliche Bedingung oder gesetzliche Voraussetzung für das Entstehen der einen oder der anderen Forderung fehlt. Er dehnt die Aufrechnungsbefugnis zudem auf Fälle aus, in denen lediglich ein Element der rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs noch nicht erfüllt ist. Die Vorschrift soll die Gläubiger schützen, deren Forderung in ihrem rechtlichen Kern aufgrund gesetzlicher Bestimmungen oder vertraglicher Vereinbarung bereits gesichert ist und fällig wird, ohne dass es einer weiteren Rechtshandlung des Anspruchsinhabers bedarf (BGHZ 160, 1, 5 f; BGH, Urt. v. 6. November 1989 - II ZR 62/89, ZIP 1990, 53, 55).

bb) Die Mietzinsansprüche für Juli 2002 sowie Februar und März 2003 waren gemäß § 163 BGB befristet mit Beginn des jeweiligen Zeitabschnitts, für den der Mietzins zu zahlen war, entstanden (BGHZ 111, 84, 94 f; BGH, Urt. v. 30. Januar 1997 - IX ZR 89/96, WM 1997, 545, 546; v. 11. November 2004 aaO S. 182). Damit standen sie gemäß § 163 BGB aufschiebend bedingten Forderungen im Sinne des § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO gleich. Dies wird von den Parteien des Revisionsverfahrens nicht in Frage gestellt.

cc) Nach § 4 Nr. 4 des Mietvertrages waren die Nebenkostenvorauszahlungen jährlich abzurechnen. Da der Mietvertrag gemäß § 108 Abs. 1 InsO mit Wirkung für die Insolvenzmasse fortbestand, war im Jahr der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Abrechnung für die Zeit bis zur Verfahrenseröffnung und für die Zeit danach getrennt vorzunehmen, weil die Erstattungsansprüche des Mieters für die Zeit bis zur Eröffnung des Verfahrens Insolvenzforderungen sind (§ 108 Abs. 2 InsO), für die Zeit danach dagegen Masseforderungen. Entsprechend hat der Kläger abgerechnet.

Aus dem Mietvertrag ergibt sich auch die - dort nicht ausdrücklich geregelte - Verpflichtung des Vermieters, ein Guthaben aus der Nebenkostenabrechnung an den Mieter auszuzahlen (BGH, Urt. v. 11. November 2004 aaO S. 182 m.w.N.).

Die Abrechnungszeiträume, auf die sich die hier streitigen Überzahlungen bezogen, waren bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgelaufen, die für einen Rückzahlungsanspruch maßgebliche Bedingung der Überzahlung jeweils eingetreten. Es fehlte lediglich jeweils die Abrechnung, mit deren Erteilung der Rückforderungsanspruch fällig wurde (BGHZ 113, 188, 194). Auch dieser Fall wird von § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO erfasst (vgl. BGH, Urt. v. 11. November 2004 aaO). Spätestens in dem Zeitpunkt, in dem auch die Mietforderungen fällig waren, konnte damit gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO durch den Beklagten die Aufrechnung erfolgen.

c) § 95 Abs. 1 Satz 3 InsO stand einer Aufrechnung nicht entgegen. Der Anspruch auf Rückzahlung des Guthabens aus den Nebenkostenvorauszahlungen für das Jahr 2000 war mit dem Zugang der Abrechnungen vom 14. und 22. Mai 2002 fällig. Damit rechnete der Beklagte gegen die Mietzinsforderung der Masse für Juli 2002 auf, die gemäß § 5 Abs. 1 des Mietvertrages am dritten Werktag des Juli 2002 und damit nicht vor seiner eigenen Forderung unbedingt und fällig wurde.

Dasselbe gilt entsprechend für die Aufrechnung mit dem Guthaben aus der Nebenkostenabrechnung für Januar bis August 2001 gegen die Mietforderungen für Februar und März 2003.

2. Für eine Unwirksamkeit der Aufrechnung gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO besteht kein Anhaltspunkt. Sie wird vom Kläger auch nicht geltend gemacht. Für die Anfechtbarkeit einer Aufrechnungslage ist maßgeblich, wann das Gegenseitigkeitsverhältnis begründet wurde. Daher kommt es darauf an, zu welchem Zeitpunkt die spätere Forderung entstanden ist. Da Bedingungen und Befristungen gemäß § 140 Abs. 3 InsO außer Betracht bleiben, war maßgeblich der Zeitpunkt des Abschlusses des Mietvertrages (BGH, Urt. v. 11. November 2004 aaO). Die Anfechtungsvoraussetzungen sind für diesen Zeitpunkt weder vorgetragen noch sonst erkennbar.

3. § 110 Abs. 3 Satz 1 InsO steht entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts der Aufrechnung nicht entgegen.

Die Vorschrift beschränkt nicht die Möglichkeit der Aufrechnung nach § 95 InsO, sondern schließt die Unzulässigkeit der Aufrechnung nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO für den dort bezeichneten Zeitraum aus. Sie gewährt ein besonderes, zusätzliches Aufrechnungsrecht, erweitert also die Aufrechnungsmöglichkeiten. Dies ergibt sich aus § 110 Abs. 3 Satz 2 InsO, wonach § 95 InsO und § 96 Abs. 1 Nr. 2 bis 4 InsO unberührt bleiben. Für den Wirksamkeitszeitraum des § 110 Abs. 1 InsO wird unabhängig von den Voraussetzungen des § 95 InsO und abweichend von § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO eine Aufrechnung zugelassen, auch dann, wenn der Insolvenzgläubiger erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Masse schuldig geworden ist; der Schuldgrund der Gegenforderung ist dabei unerheblich (BT.-Drucks. 12/2443 S. 147 zu § 124 des Reg-Entwurfs zur InsO; HK-InsO/Marotzke, 4. Aufl. § 110 Rn. 13; MünchKomm-InsO/Eckert, § 110 Rn. 22; Kübler/Prütting/Tintelnot, InsO § 110 Rn. 10; Andres/Leithaus, InsO § 110 Rn. 5; Nerlich/Römermann/Balthasar, InsO § 110 Rn. 13; Hess in Hess/Weiss/Wienberg, InsO 2. Aufl. § 110 Rn. 14; Uhlenbruck/Berscheid, InsO 12. Aufl. § 110 Rn. 12 f).

III. Die Urteile des Berufungsgerichts und des Amtsgerichts sind demgemäß aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da die Aufhebung nur wegen Rechtsverletzung erfolgt und der maßgebliche Sachverhalt feststeht, hat der Senat in der

Sache selbst zu entscheiden und die Klage kostenpflichtig abzuweisen (§ 563 Abs. 3 ZPO).

Fischer Raebel Vill

Cierniak Lohmann

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