VI ZR 170/14

15.09.2015

BUNDESGERICHTSHOF

vom

15. September 2015

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


BGB § 823 Abs. 1 Aa


Zu den Anforderungen an die Aufklärung, wenn eine Operation (hier: Sigmaresektion) nur deshalb relativ indiziert ist, weil ihre Erforderlichkeit (subjektiv) vom Sicherheitsbedürfnis des Patienten abhängt.


BGH, Beschluss vom 15. September 2015 - VI ZR 170/14 - OLG Celle, LG Hannover


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 15. September 2015 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Wellner und Stöhr und die Richterinnen Dr. Oehler und Dr. Roloff

beschlossen:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 3. März 2014 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gegenstandswert: 110.403,86 €

Gründe:

[1] I. Der Kläger macht gegen den beklagten Klinikträger Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit einer Dickdarm-(=Sigma-)Resektion geltend. Im weiteren Verlauf wurden Revisionsoperationen notwendig. Bei dem Kläger musste ein künstlicher Ausgang angelegt und er musste zeitweise in ein künstliches Koma versetzt werden. Ferner trug er eine Armplexusparese davon. Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht mit Beschluss im Sinne des § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die vorliegende Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers, mit der er sein Klagebegehren weiterverfolgen will.

[2] II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

[3] Unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist das Berufungsgericht zu der Annahme gelangt, der Kläger sei hinreichend über die Indikation einer solchen Operation aufgeklärt worden. Das Berufungsgericht hat entscheidungserhebliches Parteivorbringen übergangen, weil es den Kern des Klägervortrags zur fehlerhaften Aufklärung nicht hinreichend berücksichtigt hat. Dieser war im Kern darauf gerichtet, dass der Kläger - unter Einbeziehung der im Hause der Beklagten erhobenen Befunde - nicht hinreichend aufgeklärt worden sei über die Erforderlichkeit einer Sigmaresektion.

[4] 1. Nach dem Urteil des Landgerichts, auf welches das Berufungsgericht verweist, hat der Gerichtssachverständige erläutert, dass eine Divertikulitis in etwa 70 % der Fälle symptomfrei bleibe, es also nicht zu Beschwerden komme. In den übrigen Fällen könne es zu akuten Entzündungen kommen, die auch zu Blutungen führen könnten. Nach einer unkomplizierten Divertikulitis (also einer Entzündung ohne gravierende Begleiteffekte) komme es bei konservativer Behandlung (Antibiose, Diät) in etwa 75 % der Fälle nicht zu einem weiteren Entzündungsschub. Daher habe es im Jahr 2007 dem medizinischen Standard entsprochen, nur bei einer komplizierten Divertikulitis (mit Blutung, Abszessbildung, Perforation oder Peritonitis) oder nach mehrmaligen Entzündungsschüben eine Operation durchzuführen. Im vorliegenden Fall sei hingegen von einer unkomplizierten Divertikulitis im Stadium 1 auszugehen, die bei einem ersten Schub konservativ (Diät, Bewegung, ggf. Antibiose) zu behandeln sei. Eine Operation stelle in einem solchen Fall eine rein prophylaktische Maßnahme dar, die voraussetze, dass der Patient dies wünsche. Der Präventionscharakter der Operation müsse daher mit dem Patienten besprochen werden. Es ist davon auszugehen, dass sich der Kläger diese ihm günstigen Ausführungen des Sachverständigen zu Eigen gemacht hat.

[5] 2. Trotz dieser Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen ist das Berufungsgericht, das von einer prophylaktischen Maßnahme ausgegangen ist, die lediglich nicht kontraindiziert gewesen sei und durchgeführt werden könne, wenn der Patient dies wünsche, zu dem Ergebnis gelangt, dass die dem Kläger zuteil gewordene Aufklärung ausreichend gewesen sei.

[6] Seine Auffassung, die dem Kläger zuteil gewordene Aufklärung sei ausreichend, weil die Ärzte der Beklagten aufgrund eines nicht vorwerfbaren Diagnosefehlers von einer rezidivierenden Divertikulitis hätten ausgehen dürfen, wird jedoch nicht von den getroffenen Feststellungen getragen und lässt das Vorbringen des Klägers zur damaligen Befundsituation gehörswidrig unberücksichtigt. Der Kläger konnte sich nämlich auch darauf stützen, dass der Sachverständige ausgeführt hat, für mehrfache Entzündungsschübe gebe es keine Nachweise und die Annahme einer rezidivierenden Divertikulitis sei daher objektiv nicht belegt. Nach den Feststellungen des Landgerichts ergab eine Koloskopie bei der ersten Vorstellung des Klägers in der Klinik der Beklagten lediglich zwei reizlose Divertikel im Dickdarm (im Bereich des sog. Sigma). Bei der zweiten Vorstellung wegen Darmbeschwerden im September 2006 in der Klinik der Beklagten konnte deren Ursache nicht ermittelt werden. Weshalb die Ärzte der Beklagten dann bei der dritten Vorstellung des Klägers wegen Darmbeschwerden im März 2007 von einer rezidivierenden Divertikulitis (also einer wiederholten Entzündung des Dickdarms) ausgehen konnten, ist auf dieser (unstreitigen) Tatsachengrundlage objektiv nicht nachvollziehbar. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das Berufungsgericht für eine Verletzung der Aufklärungspflicht sprechende wesentliche Gesichtspunkte unberücksichtigt gelassen und mithin das rechtliche Gehör des Klägers verletzt hat.

[7] 3. Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Einbeziehung der Befundsituation in die Aufklärung eine Aufklärungspflichtverletzung angenommen hätte.

Galke Wellner Stöhr

Oehler Roloff

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