VI ZR 181/04

14.06.2005

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

Verkündet am:

14. Juni 2005

H o l m e s,Justizangestellteals Urkundsbeamtinder Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


BGB § 823 Ha, § 828 Abs. 2


Das Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl. I 2674) führt nicht zu einer Änderung der Darlegungs- und Beweislast für Schadensfälle, die sich vor dem 1. August 2002 ereignet haben.


BGH, Urteil vom 14. Juni 2005 - VI ZR 181/04 - OLG Köln, LG Köln


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren mit Schriftsatzfrist bis zum 7. Mai 2005 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr

für Recht erkannt:

Die Revision gegen das Urteil des 15. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 27. Mai 2004 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Der Kläger, ein überörtlicher Sozialhilfeträger, nimmt die Beklagte aus gem. § 116 SGB X übergegangenem Recht auf Erstattung von Aufwendungen und Feststellung der zukünftigen Haftung aus Anlaß eines Verkehrsunfalls in Anspruch.

Am 5. Juni 1993 lief der damals 8-jährige Jens G., der zuvor mit drei anderen Kindern in einer breiten Parklücke gestanden hatte, gegen einen mit einer Geschwindigkeit zwischen 25 und 40 km/h vorbeifahrenden PKW, der bei der Beklagten haftpflichtversichert war. Jens wurde schwer verletzt und ist seitdem zu 100 % behindert. Auf seine Klage wurde durch Urteil des Landgerichts K. vom 22. November 1995 rechtskräftig festgestellt, daß die Beklagte als Gesamtschuldnerin mit der Führerin des Fahrzeuges verpflichtet ist, dem Geschädigten 2/3 aller ihm zukünftig erwachsenden Schäden aus dem Unfall zu ersetzen, soweit nicht der Anspruch auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist. Der Kläger begehrt vollumfänglichen Ersatz der von ihm übernommenen Kosten für die Heil- und Rehabilitationsbehandlung sowie die fortdauernde Unterbringung des Geschädigten. Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 2/3 der geltend gemachten Aufwendungen verurteilt und dem Feststellungsbegehren mit einer entsprechenden Quote entsprochen. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Mit seiner vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren in vollem Umfang weiter.

Entscheidungsgründe:

I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, der Kläger müsse sich gemäß § 254 BGB i.V.m. § 828 Abs. 2 BGB a.F. ein mit 1/3 zu bemessendes Mitverschulden des Geschädigten anrechnen lassen. Dessen mangelnde Zurechnungsfähigkeit sei weder dargelegt noch bewiesen. Allein die Berufung auf neuere wissenschaftliche Erkenntnisse und das Alter des Kindes zum Unfallzeitpunkt reiche dafür nicht aus. Die der Neuregelung von § 828 Abs. 2 BGB zugrunde liegenden Erkenntnisse führten nicht zu einer Änderung der Beweislage für die vor dem Inkrafttreten dieser Norm eingetretenen Schadensfälle. Soweit der Kläger Ersatz für die zeitlich nach der Entscheidung des Vorprozesses erbrachten Aufwendungen verlange, stehe seiner Mehrforderung die Rechtskraft des seinerzeit ergangenen Urteils entgegen.

II. Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung stand.

1. Ohne Erfolg wendet sich die Revision dagegen, daß das Berufungsgericht ein Mitverschulden des Verletzten bejaht und dieses mit einem Drittel bemessen hat.

a) Da das schädigende Ereignis vor dem 1. August 2002 eingetreten ist, bestimmt sich die Mitverantwortung des geschädigten Kindes (§ 254 BGB) gemäß Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB nach der Vorschrift des § 828 BGB in der vor Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl. I, 2674) geltenden Fassung. Nach § 828 Abs. 2 BGB a.F. ist, wer das siebente, aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hat, für einen Schaden nicht verantwortlich, wenn er zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat. Die Einsichtsfähigkeit wird danach vom Gesetz vermutet. Ihr Fehlen ist eine Ausnahme, deren Vorliegen der Minderjährige im konkreten Fall darlegen und beweisen muß (Senatsurteile vom 23. Dezember 1953 - VI ZR 166/52 - JZ 1954, 297, 298; vom 27. Januar 1970 - VI ZR 157/68 - VersR 1970, 374; vom 10. März 1970 - VI ZR 182/68 - VersR 1970, 467, 468; vom 28. Februar 1984 - VI ZR 132/82 - VersR 1984, 641, 642 und vom 29. April 1997 - VI ZR 110/96 - VersR 1997, 834, 835).

b) An dieser Rechtslage hat sich für die Beurteilung der vor Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung erfolgten Schadensfälle nichts geändert. Das Zweite Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften sieht keine rückwirkende Geltung für "Altfälle" vor (vgl. OLG Celle, Urteil vom 17. Juli 2003, mit NZB-Beschluß des Senats vom 20. Januar 2004 - VI ZR 248/03 -, r + s 2004, 475). Das wird von der Revision auch nicht verkannt. Sie meint jedoch, die Neufassung der Vorschrift des § 828 Abs. 2 BGB habe nur klarstellende Funktion. Der Gesetzgeber habe damit lediglich nachvollzogen, daß nach neuen wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie einer Haftung von Kindern bis zum zehnten Lebensjahr kindliche Eigenheiten entgegenstünden. Deswegen sei bei Verkehrsunfällen im Straßenverkehr von einer mangelnden Einsichtsfähigkeit auszugehen. Im Streitfall hätte mithin die Beklagte Anhaltspunkte für das Vorhandensein der Einsichtsfähigkeit vortragen und unter Beweis stellen müssen. Dem kann nicht gefolgt werden.

Richtig ist, daß der Gesetzgeber mit der Einführung der Ausnahmevorschrift des § 828 Abs. 2 BGB dem Umstand Rechnung getragen hat, daß Kinder bis zur Vollendung ihres zehnten Lebensjahres regelmäßig überfordert sind, die besonderen Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu erkennen, insbesondere die Entfernungen und Geschwindigkeiten von anderen Verkehrsteilnehmern richtig einzuschätzen und sich den Gefahren entsprechend zu verhalten. Dabei hat er sich von der Erkenntnis leiten lassen, daß Kinder in diesem Alter wegen ihres Lauf- und Erprobungsdrangs, ihrer Impulsivität, Affektreaktionen, mangelnden Konzentrationsfähigkeit und ihrem gruppendynamischen Verhalten oft zu einem verkehrsgerechten Verhalten nicht in der Lage sind (vgl. BT-Drucks. 14/7752, S. 16 und 26). Der Gesetzgeber hat damit Gesichtpunkte aufgegriffen, mit denen in den vorangegangenen rechts- und verkehrspolitischen Diskussionen die Forderung begründet wurde, den Beginn der Deliktsfähigkeit generell, zumindest aber bei sämtlichen Verkehrsunfällen auf das Alter von zehn Jahren heraufzusetzen (vgl. Senatsurteile vom 30. November 2004 - VI ZR 335/03 - VersR 2005, 376 f., zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt, und - VI ZR 365/03 - VersR 2005, 380 sowie vom 21. Dezember 2004 - VI ZR 276/03 - VersR 2005, 378). Der gesetzlichen Neuregelung kann jedoch nicht entnommen werden, daß Kindern bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres bei Unfällen im motorisierten Straßenverkehr regelmäßig die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht im Sinne von § 828 Abs. 2 BGB a.F. fehlt. Das mag zwar der Fall sein, soweit Kinder dieser Altersgruppe etwa im Hinblick auf ihre psychomotorischen Fähigkeiten nicht in der Lage sind, sich verkehrsgerecht zu verhalten. Es trifft aber nicht zu, wenn sieben- bis zehnjährige Kinder sich deshalb nicht verkehrsgerecht verhalten, weil sie nicht in der Lage sind, ihre Impulsivität zu bändigen. Um eine klare Grenzlinie für die Haftung von Kindern zu ziehen, hat der Gesetzgeber diese Fallgestaltungen einheitlich in der Weise geregelt, daß er die Altersgrenze der Deliktsfähigkeit von Kindern für den Bereich des motorisierten Verkehrs generell heraufgesetzt hat, ohne hierfür jedoch eine Rückwirkung anzuordnen. Für "Altfälle" bedeutet dies, daß die anerkannten Grundsätze über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast auch nach der gesetzlichen Neuregelung unverändert fortgelten.

c) Die Beurteilung des Berufungsgerichts, daß der Kläger das Fehlen der Einsichtsfähigkeit des geschädigten Kindes nicht dargelegt habe, wird von der Revision nicht angegriffen. Sie wendet sich auch nicht näher gegen die tatrichterlichen Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht im Anschluß an das Landgericht ein Verschulden des Kindes bejaht und dessen Mitverursachungsanteil mit einem Drittel bewertet hat.

2. Da die Revision aus den aufgezeigten Gründen keinen Erfolg hat, ist nicht zu prüfen, ob die Hilfsbegründung des Berufungsgerichts zutrifft, der Mehrforderung des Klägers stehe auch die Rechtskraft des im Vorprozeß ergangenen Urteils entgegen.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Müller Greiner Wellner

Pauge Stöhr

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