XII ZB 16/11

28.09.2011

BUNDESGERICHTSHOF

vom

28. September 2011

in der Betreuungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


FamFG § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, Abs. 2


Die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen ist nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt. Für einen in diesem Sinne umfassenden Verfahrensgegenstand spricht, dass die vom Gericht getroffene Maßnahme die Betreuung auf Aufgabenkreise erstreckt, die in ihrer Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen umfassen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 4. August 2010 - XII ZB 167/10 - FamRZ 2010, 1648).


BGH, Beschluss vom 28. September 2011 - XII ZB 16/11 - LG Baden-Baden, AG Bühl


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. September 2011 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Hahne und die Richter Weber-Monecke, Dose Schilling und Dr. Günter

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Baden-Baden vom 17. Dezember 2010 aufgehoben.

Das Verfahren wird zur erneuten Behandlung und Ent-

scheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Landgericht zurückverwiesen.

Beschwerdewert: 3.000 ?

Gründe:

[1] I. Für den Betroffenen wurde mit Beschluss vom 15. November 2010 eine Betreuung mit den Aufgabenkreisen Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern sowie Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post angeordnet und ein Betreuer bestellt. Außerdem wurde angeordnet, dass der Betroffene zu Willenserklärungen, die den Aufgabenkreis der Vermögenssorge betreffen, der Einwilligung des Betreuers bedarf.

[2] Mit Schriftsatz vom 15. November 2010 legte der Rechtsanwalt, der den Betroffenen im Betreuungsverfahren vertreten hatte, das Mandat für diesen nieder.

[3] Die Beschwerde, die der Betroffene selbst gegen den Beschluss des Amtsgerichts eingelegt hatte, wurde vom Landgericht zurückgewiesen. Einen Verfahrenspfleger hatte das Landgericht nicht bestellt. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene sein Begehren auf Aufhebung der Betreuung und des Einwilligungsvorbehalts weiter.

[4] II. Die nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

[5] 1. Das Landgericht hat angenommen, dass der Betroffene aufgrund einer bipolaren Störung mit ausgeprägter manischer Symptomatik derzeit nicht in der Lage sei, die Angelegenheiten, derentwegen das Amtsgericht die Betreuung angeordnet hat, selbst zu besorgen. Das folge aus dem nervenfachärztlichen Gutachten und der ergänzenden ärztlichen Stellungnahme der Sachverständigen. Deren Einschätzung habe sich auch im Rahmen der Anhörung des Betroffenen bestätigt. Er sei nach dem Sachverständigengutachten und dem Verlauf der Anhörung krankheitsbedingt auch nicht zu einer freien Willensbildung in der Lage.

[6] 2. Gegen diese Ausführungen wendet sich die Rechtsbeschwerde ohne Erfolg, soweit sie geltend macht, aus einem später erstatteten Sachverständigengutachten ergebe sich, dass der Betroffene in seiner freien Willensbildung nicht beeinträchtigt sei. Nach dem von der Rechtsbeschwerde in Bezug genommenen Gutachten, das von der Sachverständigen im Rahmen eines Unterbringungsverfahrens erstattet worden ist, ist dem Betroffenen aufgrund seiner manischen Erkrankung eine freie Willensbildung vielmehr nicht möglich.

[7] 3. Die Rechtsbeschwerde rügt allerdings zu Recht, dass das Beschwerdegericht dem Betroffenen keinen Verfahrenspfleger bestellt hat. Es hat lediglich die für das Unterbringungsverfahren bestellte Verfahrenspflegerin zum Anhörungstermin geladen, sie aber nicht förmlich am Verfahren beteiligt.

[8] a) Nach § 276 Abs. 1 FamFG hat das Gericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung der Interessen des Betroffenen erforderlich ist. Nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG ist die Bestellung in der Regel erforderlich, wenn der Gegenstand des Verfahrens die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betroffenen oder die Erweiterung des Aufgabenkreises hierauf ist. Nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG kann von der Bestellung in den Fällen des Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 abgesehen werden, wenn ein Interesse des Betroffenen an der Bestellung des Verfahrenspflegers offensichtlich nicht besteht. Nach § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG ist die Nichtbestellung zu begründen. Der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht unterliegt es, ob die den Tatsacheninstanzen obliegende Entscheidung ermessensfehlerfrei getroffen worden ist. Davon kann hier nicht ausgegangen werden.

[9] aa) Die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen ist regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt. Für einen in diesem Sinne umfassenden Verfahrensgegenstand spricht, dass die vom Gericht getroffene Maßnahme die Betreuung auf Aufgabenkreise erstreckt, die in ihrer Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen umfassen und damit in die Zuständigkeit des Betreuers fallen. Selbst wenn dem Betroffenen nach der Entscheidung letztlich einzelne restliche Bereiche zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung verblieben sind, entbindet dies jedenfalls dann nicht von der Bestellung eines Verfahrenspflegers, wenn die verbliebenen Befugnisse den Betroffenen in seiner konkreten Lebenssituation keinen nennenswerten eigenverantwortlichen Handlungsspielraum belassen (Senatsbeschluss vom 4. August 2010 - XII ZB 167/10 - FamRZ 2010, 1648 Rn. 13).

[10] Nach diesen Grundsätzen ist im vorliegenden Fall das Regelbeispiel des § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG erfüllt. Die angeordnete Betreuung umfasst die Aufgabenkreise Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern sowie Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post. Dies hat zur Folge, dass der Betreuer in allen wesentlichen Bereichen maßgeblichen Einfluss auf die Lebensgestaltung des Betroffenen hat, so dass der Verfahrensgegenstand alle Angelegenheiten im Sinne des § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG betrifft. Im vorliegenden Fall ist darüber hinaus noch ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet worden.

[11] bb) Die Bestellung eines Verfahrenspfleger soll allerdings unterbleiben, wenn die Interessen des Betroffenen von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten vertreten werden (§ 276 Abs. 4 FamFG). Denn wenn der Betroffene für seine Vertretung in dem Verfahren selbst Sorge trägt, besteht für die Bestellung eines Verfahrenspflegers kein Bedürfnis; die Vertretung durch einen Anwalt hat vielmehr Vorrang (Keidel/Budde FamFG 16. Aufl. § 276 Rn. 7).

[12] Im Hinblick hierauf war vorliegend die Bestellung eines Verfahrenspflegers im Beschwerdeverfahren indessen nicht entbehrlich. Denn der Rechtsanwalt, der den Betroffenen in erster Instanz vertreten hatte, hat zeitgleich mit dem Erlass der amtsgerichtlichen Entscheidung das Mandat für den Betroffenen niedergelegt.

[13] cc) Gleichwohl kann nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG unter den bereits genannten Voraussetzungen von der Bestellung eines Verfahrenspflegers abgesehen werden. Eine Verfahrenspflegschaft ist nur dann nicht anzuordnen, wenn sie einen rein formalen Charakter hätte (Senatsbeschluss vom 4. August 2010 - XII ZB 167/10 - FamRZ 2010, 1648 Rn. 15). Ob es sich um einen Ausnahmefall im Sinne dieser Umschreibung handelt, ist aufgrund der nach § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorgeschriebenen Begründung zu beurteilen.

[14] Der angefochtene Beschluss enthält indessen keine Begründung für die unterbliebene Bestellung eines Verfahrenspflegers. Deshalb lässt sich weder feststellen, aus welchen Erwägungen von der Anordnung einer Verfahrenspflegschaft abgesehen wurde noch dass diese Entscheidung ermessensfehlerfrei zustande gekommen ist. Dass der vor dem Landgericht anwaltlich nicht vertretene Betroffene seine Interessen selbst hätte wahrnehmen können, erscheint angesichts des bei ihm vorliegenden Krankheitsbildes und der dargestellten mangelnden Krankheitseinsicht fernliegend.

[15] b) Die Entscheidung des Landgerichts beruht auf der Nichtbestellung des Verfahrenspflegers. Denn es lässt sich nicht ausschließen, dass das Landgericht nach Hinzuziehung eines Verfahrenspflegers aufgrund dessen Stellungnahme zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.

[16] 4. Der angefochtene Beschluss ist deshalb aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen. Dieses wird die Bestellung eines Verfahrenspflegers zu prüfen und gegebenenfalls nach dessen Stellungnahme erneut zu entscheiden haben.

Hahne Weber-Monecke Dose

Schilling Günter

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