BGH, Beschluss vom 11. Juni 2024 - XIII ZB 49/21

05.08.2024

BUNDESGERICHTSHOF

vom

11. Juni 2024

in der Abschiebungshaftsache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


GG Art. 103 Abs. 1


FamFG § 417

Dem Betroffenen müssen vor seiner gerichtlichen Anhörung wesentliche Ergänzungen und Änderungen des Haftantrags in geeigneter Weise mitgeteilt und erforderlichenfalls übersetzt werden.


BGH, Beschluss vom 11. Juni 2024 - XIII ZB 49/21 - LG Passau, AG Passau


Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. Juni 2024 durch die Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt, die Richterinnen Dr. Vogt-Beheim und Dr. Holzinger sowie den Richter Dr. Kochendörfer

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde der Person des Vertrauens des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Passau vom 21. Juli 2021 und der Beschluss des Landgerichts Passau - 2. Zivilkammer - vom 17. August 2021 den Betroffenen im Zeitraum vom 23. Juli 2021 bis zum 17. August 2021 in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Person des Vertrauens des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Kreis Passau auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe:

[1] I. Der Betroffene, ein malischer Staatsangehöriger, reiste im August 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seinen Asylantrag hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) mit Bescheid vom 3. Juli 2017 - wegen eines bereits zuvor in Belgien gestellten Asylantrags - als unzulässig abgelehnt und dem Betroffenen die Abschiebung angedroht. Der Bescheid ist seit dem 12. Juli 2017 bestandskräftig.

[2] Auf Antrag der beteiligten Behörde vom 20. Juli 2021, ergänzt mit E-Mail vom 21. Juli 2021, ordnete das Amtsgericht mit Beschluss vom 21. Juli 2021 Haft zur Sicherung der Abschiebung bis spätestens 20. August 2021 an. Mit Schreiben vom 23. Juli 2021 hat der Rechtsbeschwerdeführer angezeigt, Person des Vertrauens des Betroffenen zu sein und einen Antrag auf Haftaufhebung gestellt. Mit Beschluss vom 11. August 2021 hat das Amtsgericht den Haftaufhebungsantrag zurückgewiesen. Die dagegen eingelegte Beschwerde hat das Landgericht mit Beschluss vom 17. August 2021 zurückgewiesen. Der Betroffene ist am 17. August 2021 abgeschoben worden.

[3] Mit der Rechtsbeschwerde begehrt die Vertrauensperson festzustellen, dass die Haft den Betroffenen ab dem 23. Juli 2021 in seinen Rechten verletzt hat.

[4] II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

[5] 1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Haftantrag der beteiligten Behörde sei zulässig. In der Aushändigung und Übersetzung des Haftantrags erst zu Beginn der Anhörung liege keine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Die Ausreisepflicht des Betroffenen stehe aufgrund des bestandskräftigen Bescheids des Bundesamts fest. Fluchtgefahr sei angesichts des Untertauchens des Betroffenen im April 2021 und seiner Erklärung, nicht freiwillig ausreisen zu wollen, gegeben. Einer erneuten Anhörung bedürfe es nicht.

[6] 2. Diese Beurteilung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

[7] a) Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Die Vertrauensperson ist gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG i.V.m. § 418 Abs. 3 Nr. 2 FamFG rechtsbeschwerdebefugt (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Mai 2023 - XIII ZB 9/20,

InfAuslR 2024, 39 Rn. 3). Sie ist durch die angefochtene Entscheidung, mit der ihre Beschwerde gegen Beschluss des Amtsgerichts zurückgewiesen wurde, formell beschwert. Der Rechtsbeschwerdeberechtigung steht nicht entgegen, dass die Vertrauensperson im ersten Rechtszug des Haftanordnungsverfahrens, der mit Erlass des die Haft anordnenden Beschlusses des Amtsgerichts vom 21. Juli 2021 endete (vgl. BGH Beschluss vom 9. Mai 2023 - XIII ZB 9/20, InfAuslR 2024, 39 Rn. 9), nicht beteiligt war. Einen Haftaufhebungsantrag kann die Vertrauensperson unabhängig von einer förmlichen Beteiligung durch das Gericht stellen (BGH, Beschluss vom 19. Mai 2020 - XIII ZB 82/19, InfAuslR 2020, 387 Rn. 13). Das Haftaufhebungsverfahren ist ein gegenüber dem Anordnungsverfahren eigenständiges Verfahren mit unterschiedlichen Voraussetzungen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Mai 2020 - XIII ZB 82/19, InfAuslR 2020, 387 Rn. 23; vom 23. Februar 2021 - XIII ZB 52/20, juris Rn. 14).

[8] b) Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde, dass die Haftanordnung unter Verletzung von Verfahrensrechten des Betroffenen, namentlich seines Anspruchs auf rechtliches Gehör, ergangen ist. Das führte zur Fehlerhaftigkeit der Anhörung und Rechtswidrigkeit der Haft. Das Amtsgericht hat zwar eine Anhörung des Betroffenen durchgeführt und ihm zuvor den Haftantrag vom 20. Juli 2021 übergeben, der ihm vollständig übersetzt wurde. Der Betroffene ist ausweislich der Akte aber nicht zu den ergänzenden Angaben der antragstellenden Behörde angehört worden.

[9] aa) Das Gesetz misst dem Haftantrag eine besondere Bedeutung für die Zulässigkeit der Anordnung von Sicherungshaft zu. Eine Ablichtung des Haftantrags ist dem Betroffenen deshalb vor seiner gerichtlichen Anhörung auszuhändigen und erforderlichenfalls mündlich zu übersetzen. Dass dies geschehen ist, muss dem Protokoll über die Anhörung zu entnehmen oder in anderer Weise in der Akte dokumentiert sein (BGH, Beschluss vom 16. Januar 2014 - V ZB 108/13, juris Rn. 5 mwN). Dadurch wird sichergestellt, dass sich der Betroffene zu sämtlichen (tatsächlichen und rechtlichen) Angaben der beteiligten Behörde äußern und gegenüber dem Haftantrag verteidigen kann. Unterbleibt die Übergabe des Haftantrags oder seine vollständige Übersetzung, verletzt dies den Betroffenen in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör. Es führt zur Rechtswidrigkeit der Haft, wenn der Betroffene gehindert ist, der Anordnung von Haft entgegenstehende tatsächliche oder rechtliche Gründe vorzutragen (BGH, Beschlüsse vom 12. März 2015 - V ZB 187/14, InfAuslR 2015, 301 Rn. 4 f.; vom 7. April 2020 - XIII ZB 37/19, InfAuslR 2020, 279 Rn. 12). Das gleiche gilt, wenn die antragstellende Behörde die Angaben im Haftantrag nachträglich ergänzt. Die Änderungen müssen dem Betroffenen vor der Anhörung in geeigneter Weise mitgeteilt und erforderlichenfalls übersetzt werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Februar 2024 - XIII ZA 1/24, juris Rn. 10 f.; vom 5. März 2024 - XIII ZB 20/22, juris Rn. 9).

[10] bb) Die beteiligte Behörde hat mit ihrem Haftantrag vom 20. Juli 2021 zunächst Haft bis einschließlich 10. September 2021 beantragt. Grundlage hierfür war, dass sie beim Landesamt für Asyl und Rückführungen eine sicherheitsbegleitete Rückführung beantragt und dafür einen erforderlichen Haftzeitraum von sieben Wochen veranschlagt hatte. Mit einer ergänzenden E-Mail vom 21. Juli 2021 hat sie ihren Antrag auf einen Haftzeitraum von etwas mehr als vier Wochen begrenzt. Sie hat mitgeteilt, dass seitens des Landesamts für Asyl und Rückführungen eine Sicherheitsbegleitung nicht empfohlen, sondern ein unbegleiteter Flug für den 17. August 2021 gebucht wurde. Um möglichen Verzögerungen vorzubeugen, werde um Haft bis zum 20. August 2021 gebeten. Diese Angaben waren nicht Gegenstand der Anhörung des Betroffenen. Aus dem Protokoll geht lediglich hervor, dass dem Betroffenen der Haftantrag vom 20. Juli 2020 ausgehändigt und übersetzt wurde und dass er sich dazu äußern konnte. Die E-Mail-Korrespondenz wird im Protokoll nicht erwähnt. Bei dieser Sachlage wurde der Betroffene über die wesentlichen Gründe für die beabsichtigte Haftdauer nicht zutreffend unterrichtet. Es wurde ihm etwa die Möglichkeit genommen, in Bezug auf die nunmehr geplante Abschiebung ohne Sicherheitsbegleitung geltend zu machen, dass diese früher erfolgen könne. Dahinstehen kann danach, ob die E-Mail vom 21. Juli 2021 ausreichende Angaben zur Dauer der Haft enthält.

[11] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Roloff Tolkmitt Vogt-Beheim

Holzinger Kochendörfer

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