BGH, Beschluss vom 12. Juni 2024 - XII ZR 92/22

13.08.2024

BUNDESGERICHTSHOF

vom

12. Juni 2024

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


ZPO § 522 Abs. 2; BGB § 1056 Abs. 2


a) Der nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO gebotene Hinweis auf die beabsichtigte Beschlusszurückweisung der Berufung kann im Hinblick auf den Anspruch des Berufungsklägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verfahrensordnungsgemäß erst nach dem Vorliegen der Berufungsgründe einschließlich etwaiger (zulässig) geltend gemachter neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel erteilt werden.

b) Der Grundstückseigentümer, der den verstorbenen Nießbraucher nicht als Alleinerbe beerbt hat, ist in Ansehung der von dem Nießbraucher abgeschlossenen Mietverträge nicht schon deshalb nach Treu und Glauben an der Ausübung des außerordentlichen Kündigungsrechts gemäß § 1056 Abs. 2 BGB gehindert, weil ihm das dienende Grundstück von dem Nießbraucher mit dem Motiv der vorweggenommenen Erbfolge übertragen worden ist.


BGH, Beschluss vom 12. Juni 2024 - XII ZR 92/22 - OLG München, LG München II


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. Juni 2024 durch den

Vorsitzenden Richter Guhling, die Richter Dr. Nedden-Boeger und Dr. Botur und die Richterinnen Dr. Krüger und Dr. Recknagel

beschlossen:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird die Revision gegen den Beschluss des 32. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 5. September 2022 zugelassen.

Auf die Revision der Beklagten wird das vorgenannte Urteil aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich der Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Wert: 69.436 €

Gründe:

[1] I. Der Kläger und die Geschäftsführerin der Beklagten sind Geschwister. Der Kläger begehrt nach beendetem Nießbrauch und nach Kündigung die Herausgabe eines in der Nießbrauchszeit von der Beklagten gemieteten, mit einem Wohnhaus und einem Fabrikgebäude bebauten Grundstücks.

[2] Ursprüngliche Eigentümerin des Grundstücks war die Mutter der beiden Geschwister. Diese übertrug das Grundstück am 10. Dezember 2002 "im Wege der vorweggenommenen Erbfolge" an den Kläger und behielt sich den Nießbrauch an dem gesamten Grundstück vor. Nach ihrem Ableben sollte der Nießbrauch an ihren Ehemann, den Vater der beiden Geschwister, übergehen. Der Übertragungsvertrag enthält in Ziffer IV.2. die folgende Bestimmung:

"Der Nießbrauchsberechtigte ist aufgrund des vorbehaltenen Nießbrauchs berechtigt, den Vertragsgegenstand erstmals oder erneut zu vermieten oder zu verpachten. Etwaige Miet- oder Pachtverhältnisse sind vom Erwerber bei Nießbrauchsende zu übernehmen. "

[3] Im März 2017 errichteten die Eltern ein gemeinschaftliches Ehegattentestament, in dem sie sich gegenseitig als Vollerben und die Geschäftsführerin der Beklagten als Schlusserbin nach dem Tode des überlebenden Ehegatten einsetzten. Die Mutter starb kurz nach Errichtung des Testaments. Mit einem auf zehn Jahre befristeten "Gewerbemietvertrag" vom 19. Mai 2021 vermietete der Vater das gesamte Anwesen an die Beklagte. Am 9. September 2021 verstarb der Vater und wurde von der Geschäftsführerin der Beklagten beerbt. Mit Schreiben vom 23. September 2021 kündigte der Kläger das Mietverhältnis mit der Beklagten unter Hinweis auf § 1056 Abs. 2 BGB und verlangt im vorliegenden Verfahren die Herausgabe des Grundstücks.

[4] Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht mit Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten, die eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör rügt.

[5] II. Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Nichtzulassungsbeschwerde führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

[6] 1. Das Landgericht hat seine klagestattgebende Entscheidung am Schluss der mündlichen Verhandlung vom 26. April 2022 verkündet. Gegen das noch nicht mit Gründen versehene Urteil hat die Beklagte am 28. April 2022 "Berufung und Vollstreckungsschutzantrag" eingelegt und beantragt, durch Vorabentscheidung das angefochtene Urteil in seinem Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit abzuändern und die Zwangsvollstreckung einstweilen einzustellen. Das Oberlandesgericht hat mit Beschluss vom 27. Mai 2022 die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung abgelehnt und mit einem im schriftlichen Verfahren erlassenen Teilurteil vom 23. Juni 2022 den Antrag auf Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit zurückgewiesen. Ebenfalls am 23. Juni 2022 hat das Oberlandesgericht einen Beschluss mit dem Hinweis auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung als offensichtlich aussichtslos erlassen. Die Beklagte hat die Berufung mit einem am 24. August 2022 eingegangenen Schriftsatz innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist begründet. Im Anschluss daran hat das Berufungsgericht am 5. September 2022 seinen Zurückweisungsbeschluss erlassen.

[7] 2. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht mit seiner Verfahrensgestaltung vor dem Erlass des Beschlusses nach § 522 Abs. 2 ZPO den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat.

[8] Das Berufungsgericht hat seinen Hinweisbeschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu einem Zeitpunkt erlassen, als die Berufung noch nicht begründet war. Das in der Berufungsschrift enthaltene Vorbringen der Beklagten im Vollstreckungsschutzantrag vom 28. April 2022 hat zwar in der Sache auch kursorische Angriffe gegen einzelne Punkte enthalten, die in dem noch nicht schriftlich abgesetzten landgerichtlichen Urteil mutmaßlich nicht ausreichend berücksichtigt worden sein könnten, sich im Übrigen aber auf Ausführungen zu den der Beklagten durch die Herausgabevollstreckung drohenden Nachteilen und der Unauskömmlichkeit der vom Landgericht festgesetzten Sicherheitsleistung beschränkt. Die Begründung der Berufung hat sich die Beklagte ausdrücklich vorbehalten. Zwar enthält das Gesetz keine ausdrückliche Regelung dazu, zu welchem Zeitpunkt der Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu erfolgen hat. Es ist aber evident, dass zumindest die Berufungsgründe einschließlich etwaiger (zulässig) geltend gemachter neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel vorliegen müssen, um dem Berufungsgericht überhaupt die Beurteilung zu ermöglichen, ob dem Rechtsmittel auch eine mündliche Verhandlung offensichtlich nicht zum Erfolg verhelfen kann (vgl. BT-Drucks. 14/4722 S. 97). Nach diesen Grundsätzen hätte das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten nicht durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückweisen dürfen, ohne der Beklagten einen (nochmaligen) Hinweis zu erteilen, wonach sich seine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und zur Nichterforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung auch nach Kenntnisnahme von den Berufungsgründen nicht verändert habe.

[9] 3. Der dem Berufungsgericht unterlaufene Gehörsverstoß ist auch entscheidungserheblich.

[10] Eine Zurückweisungsentscheidung nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO beruht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs immer dann auf einer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG, wenn das Berufungsgericht bei einer ordnungsgemäßen Verfahrensgestaltung eine noch einzureichende oder bereits eingereichte Stellungnahme des Berufungsklägers hätte berücksichtigen müssen und nicht ausgeschlossen werden kann, dass es in diesem Fall zu einer abweichenden und für den Berufungskläger günstigeren Entscheidung gelangt wäre (vgl. BGH Beschlüsse vom 28. September 2021 ­ VI ZR 946/20 ­ NJW-RR 2022, 286 Rn. 6 mwN und vom 19. November 2019 ­ VI ZR 215/19 ­ NJW-RR 2020, 248 Rn. 5). So verhält es sich hier.

[11] a) Eine mögliche Entscheidungserheblichkeit des Gehörsverstoßes kann unter den obwaltenden Umständen allerdings nicht schon darin gesehen werden, dass sich das Berufungsgericht ­ wenn auch möglicherweise aufgrund einer unzureichenden Erfassung des rechtlichen Petitums der Beklagten ­ in seinem Zurückweisungsbeschluss nicht mit der von der Beklagten aufgeworfenen Rechtsfrage befasst hat, ob die Rechtsstellung eines Grundstückseigentümers, der Alleinerbe des Nießbrauchsberechtigten wird, und die Rechtsstellung eines Grundstückseigentümers, dem das dienende Grundstück im Wege vorweggenommener Erbfolge übertragen wurde, in Ansehung des Sonderkündigungsrechts nach § 1056 Abs. 2 Satz 1 BGB zumindest "wertungsmäßig" vergleichbar sind. Denn diese Rechtsfrage ist unzweifelhaft zu verneinen.

[12] Der Grundstückseigentümer, der den Nießbrauchsberechtigten allein beerbt hat, ist nach erbrechtlichen Grundsätzen durch Universalsukzession unmittelbarer Vertragspartner des Mieters geworden und haftet daher nach § 1967 BGB für die Erfüllung des Mietvertrages als Nachlassverbindlichkeit. Könnte der Erbe in dieser Situation den Mietvertrag gemäß § 1056 Abs. 2 Satz 1 BGB kündigen, würde sich eine zu Gunsten des Mieters erlassene Schutzvorschrift in ein ungerechtfertigtes Haftungsprivileg des Erben verkehren (vgl. Senatsurteil vom 20. Oktober 2010 ­ XII ZR 25/09 - NZM 2011, 73 Rn. 14; BGHZ 109, 111 = NJW 1990, 443, 445).

[13] Demgegenüber trifft den durch einen Übertragungsvertrag im Wege vorweggenommener Erbfolge Begünstigten gemäß § 1967 BGB nach allgemeiner Ansicht keine Haftung für Nachlassverbindlichkeiten des Erblassers (vgl. MünchKommBGB/Küpper 9. Aufl. § 1967 Rn. 3; BeckOGK/Grüner [Stand: 1. März 2024] BGB § 1967 Rn. 69). Deshalb haftet auch derjenige, dem das dienende Grundstück mit dem Motiv der vorweggenommenen Erbfolge unter Vorbehalt eines Nießbrauchs übertragen wird, nicht schon kraft Gesetzes für die Erfüllung der von dem Nießbraucher abgeschlossenen Mietverträge. Mit der Ausübung des Sonderkündigungsrechts gemäß § 1056 Abs. 2 Satz 1 BGB kann daher für ihn auch keine Haftungsprivilegierung verbunden sein. Würde man ihm vielmehr das Sonderkündigungsrecht aus § 1056 Abs. 2 Satz 1 BGB verwehren und ihm dadurch eine im Gesetz nicht vorgesehene Haftung für die Erfüllung der von dem Nießbraucher abgeschlossenen Mietverträge auferlegen, wäre er schlechter gestellt als der Alleinerbe des Nießbrauchers, der sich durch Ausschlagung der Erbschaft von der Haftung für die Nachlassverbindlichkeiten befreien und damit das Sonderkündigungsrecht gemäß § 1056 Abs. 2 Satz 1 BGB zu seinen Gunsten aktivieren könnte.

[14] b) Der Zurückweisungsbeschluss beruht aber deshalb auf dem Gehörsverstoß, weil das Berufungsgericht auch eine rechtsgeschäftliche Bindung des Klägers an den von dem nießbrauchsberechtigten Vater abgeschlossenen Mietvertrag mit der Beklagten verneint und sich insoweit auf die Auslegung von IV.2. des zwischen dem Kläger und seiner Mutter geschlossenen Übertragungsvertrages vom 12. Dezember 2002 gestützt hat.

[15] Die insoweit einschlägige Bestimmung, wonach "etwaige Miet- und Pachtverhältnisse (...) vom Erwerber bei Nießbrauchsende zu übernehmen" seien, hat das Berufungsgericht dahingehend gewürdigt, dass sie keine weitergehende Regelung als die enthalte, die sich nach § 1056 Abs. 1 BGB ohnehin aus dem Gesetz ergebe. Die Auslegung von Individualerklärungen ist Sache des Tatrichters. Die Gelegenheit zur Stellungnahme auf einen Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO soll dem Berufungskläger gerade die Möglichkeit eröffnen, sich argumentativ mit den tragenden Erwägungen des Berufungsgerichts auseinanderzusetzen. Es kann im vorliegenden Fall nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht, wäre der Zurückweisungsbeschluss verfahrensordnungsgemäß als weiterer Hinweisbeschluss ergangen und wären ihm daraufhin die in der Nichtzulassungsbeschwerdebegründung enthaltenen Ausführungen zur Vertragsauslegung und zur diesbezüglichen Erforderlichkeit einer Beweisaufnahme unterbreitet worden, im Hinblick auf die beabsichtigte Beschlusszurückweisung zu einer abweichenden Beurteilung gelangt wäre, und sei es auch nur im Hinblick auf die Nichtgebotenheit einer mündlichen Verhandlung (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 ZPO).

Guhling Nedden-Boeger Botur

Krüger Recknagel

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