BGH, Beschluss vom 29. Juli 2025 - XIII ZB 44/22
BUNDESGERICHTSHOF
vom
29. Juli 2025
in der Überstellungshaftsache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
FamFG § 68 Abs. 4 Satz 1, § 72 Abs. 3; ZPO § 547 Nr. 1; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3
a) Ein Richter auf Probe ist auch dann nicht zur Entscheidung über eine Beschwerde in Freiheitsentziehungssachen berufen, wenn die Beschwerde zunächst auf einen Planrichter als Einzelrichter übertragen und dessen Dezernat nachfolgend durch einen Proberichter übernommen wird.
b) Zum Grundsatz des fairen Verfahrens (hier: keine Vereitelung der Teilnahme eines Bevollmächtigten bei der Anhörung durch das Gericht, wenn der Betroffene durch Anordnung einer nur einstweiligen Haft zuvor ausreichend Gelegenheit hatte, einen zu seiner Vertretung bereiten Rechtsanwalt zu suchen).
BGH, Beschluss vom 29. Juli 2025 - XIII ZB 44/22 - LG Frankfurt am Main, AG Frankfurt am Main
Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. Juli 2025 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt sowie die Richterinnen Dr. Picker, Dr. Vogt-Beheim und Dr. Holzinger
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 21. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 1. April 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zu anderweitiger Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe:
[1] I. Der Betroffene, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste im Januar 2021 über Rumänien in das Bundesgebiet ein. Am 19. März 2021 stellte er einen Asylantrag, der mit Bescheid vom 17. Juni 2021 bestandskräftig und unter Anordnung der Abschiebung abgelehnt wurde.
[2] Das Amtsgericht hat zunächst mit einstweiliger Anordnung vom 15. Oktober 2021 die vorläufige Freiheitsentziehung bis zum 19. Oktober 2021 und sodann mit Beschluss vom 19. Oktober 2021 die Freiheitsentziehung bis zum 10. November 2021 angeordnet. Nach Eingang der Beschwerde des Betroffenen hat das Beschwerdegericht durch Beschluss vom 8. November 2021 die Sache dem Berichterstatter als Einzelrichter übertragen. Nachdem der Betroffene am 9. November 2021 nach Rumänien überstellt worden war, ist die Beschwerde mit Beschluss vom 1. April 2022 durch einen Richter auf Probe als Einzelrichter zurückgewiesen worden. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene die Aufhebung dieses Beschlusses und die Feststellung, dass der Beschluss des Amtsgerichts vom 19. Oktober 2021 ihn in seinen Rechten verletzt hat.
[3] II. Der Einzelrichter hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens liege nicht etwa deshalb vor, weil der Betroffene im Anhörungstermin am 15. Oktober 2021 erklärt habe, einen Rechtsanwalt mit der Vertretung beauftragen zu wollen und ihm am 19. Oktober 2021 nicht erneut Gelegenheit zur Mandatierung eines Rechtsanwalts gegeben wurde. Der Betroffene habe zwischen den beiden Anhörungsterminen genug Zeit gehabt, sich um eine ordnungsgemäße anwaltliche Vertretung zu kümmern. Anhaltspunkte dafür, dass die vorgesehene Rechtsanwältin am 19. Oktober 2021 überraschend und entgegen eigener, unmittelbarer, früherer Mitteilung an den Betroffenen von einer Vertretung abgesehen habe, bestünden nicht. Es gebe auch keine Zweifel an der Volljährigkeit des Betroffenen. Das Jugendamt habe sein Geburtsdatum nicht willkürlich fiktiv auf den 18. März 2003 festgesetzt, sondern aufgrund der Angaben des Betroffenen bei Aufgriffen durch die Polizei. Zudem sei der Bescheid des Jugendamtes zum Geburtsdatum des Betroffenen bestandskräftig.
[4] III. Die zulässige Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.
[5] 1. Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde gemäß § 71 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b FamFG, dass das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war (§ 72 Abs. 3 FamFG, § 547 Nr. 1 ZPO), weil über die Beschwerde ausweislich des angegriffenen Beschlusses ein Richter auf Probe als Einzelrichter entschieden hat.
[6] a) Über eine Beschwerde nach §§ 58 ff. FamFG in einer Freiheitsentziehungssache hat die mit drei Richtern besetzte Zivilkammer des Landgerichts zu entscheiden (§ 72 Abs. 1 Satz 2, § 75 GVG). Eine Übertragung der Beschwerde zur Entscheidung auf den Einzelrichter ist gemäß § 68 Abs. 4 Satz 1 FamFG in Verbindung mit § 526 ZPO mit der Maßgabe möglich, dass eine Übertragung auf einen Richter auf Probe ausgeschlossen ist.
[7] b) Anders als die beteiligte Behörde meint, ist ein Proberichter als Einzelrichter auch dann nicht zur Entscheidung über die Beschwerde berufen, wenn die Beschwerde zunächst auf einen Planrichter als Einzelrichter übertragen und dessen Dezernat nachfolgend durch einen Proberichter übernommen wird (Sternal in Sternal, FamFG, 21. Aufl., § 68 Rn. 133; Fritzsche in BeckOGK FamFG, Stand 1. Juni 2025, § 68 Rn. 61.1; Obermann in BeckOK FamFG, Stand 1. Juni 2025, § 68 Rn. 59). Ausweislich der Gesetzesbegründung sollte die Übertragungsmöglichkeit auf Richter beschränkt sein, die auf Lebenszeit ernannt sind, weil eine Entscheidung durch einen Richter auf Probe als Einzelrichter im Hinblick auf die Tragweite einer Beschwerdeentscheidung verfehlt erscheint (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit [FGG-Reformgesetz FGGRG] vom 7. September 2007, BT-Drucks. 16/6308, S. 208). Danach schließt § 68 Abs. 4 Satz 1 FamFG die Entscheidung über eine Beschwerde durch einen Proberichter als Einzelrichter generell aus.
[8] c) Dahinstehen kann vorliegend, ob die Sache anlässlich eines solchen Dezernatswechsels der Kammer ohne weiteres wieder anfällt oder gemäß § 68 Abs. 4 Satz 1 FamFG, § 526 Abs. 2 Nr. 1 ZPO vom Proberichter der Kammer zur Übernahme vorzulegen ist. Da der absolute Rechtsbeschwerdegrund des § 72 Abs. 3 FamFG, § 547 Nr. 1 ZPO der Sache nach gerügt ist und vorliegt (vgl. Göbel in Sternal, aaO, § 72 Rn. 32), kommt es entgegen der Rechtsbeschwerdeerwiderung auch nicht darauf an, ob eine von Amts wegen zu beachtende willkürliche Zuständigkeitsüberschreitung des Proberichters vorgelegen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 25. November 2015 - XII ZB 105/13, juris Rn. 4 bis 10).
[9] 2. Das Vorliegen des absoluten Rechtsbeschwerdegrunds gemäß § 72 Abs. 3 FamFG, § 547 Nr. 1 ZPO zwingt zur Aufhebung und Zurückverweisung; § 74 Abs. 2 FamFG findet keine Anwendung (Göbel in Sternal, aaO, § 74 Rn. 60; Fritzsche, aaO, § 72 Rn. 17; A. Fischer in MünchKomm.FamFG, 4. Aufl., § 72 Rn. 15; vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 1993 - BLw 40/92, DtZ 1993, 248 [juris Rn. 10]; Ball in Musielak/Voit, ZPO, 22. Aufl., § 547 Rn. 2; Brückner in BeckOGK ZPO, Stand 1. Juli 2025, § 547 Rn. 15).
[10] 3. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
[11] a) Entgegen der Rüge des Betroffenen dürfte das Amtsgericht den Grundsatz des fairen Verfahrens nicht verletzt haben. Wie der unzuständige Einzelrichter zutreffend angenommen hat, hat das Amtsgericht nach den dafür maßgeblichen Grundsätzen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 22. Februar 2022 - XIII ZB 74/20, InfAuslR 2022, 331 Rn. 11 mwN) die Teilnahme eines Bevollmächtigten an der Anhörung nicht vereitelt. Es hat vielmehr, nachdem der Betroffene im ersten Anhörungstermin am 15. Oktober 2021 einen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung beauftragen wollte, dem Betroffenen durch einstweilige Anordnung einer kurzen Haft und Bestimmung eines neuen Anhörungstermins auf den 19. Oktober 2021 ausreichend Gelegenheit gegeben, einen vertretungsbereiten Rechtsanwalt zu finden. Gelingt dies dem Betroffenen oder - wie im vorliegenden Fall - einem Angehörigen, dem der Betroffene die Anwaltssuche überlassen hat, nicht, ist das Gericht nicht gehalten, wiederum eine kurze Haft im Wege der einstweiligen Anordnung anzuordnen und einen dritten Anhörungstermin zu bestimmen. Bis zur Einführung des mit Wirkung zum 27. Februar 2024 in das Aufenthaltsgesetz eingefügten § 62d AufenthG, der gemäß § 2 Abs. 14 Satz 5 AufenthG auch für das Verfahren auf Anordnung von Überstellungshaft gilt, war es Sache des Betroffenen, sich einen vertretungsbereiten Rechtsanwalt zu suchen. Es stellt keine Vereitelung der Teilnahme eines Bevollmächtigten am Anhörungstermin durch das Gericht dar, wenn der Betroffene, der dafür ausreichend Gelegenheit hat, keinen vertretungsbereiten Rechtsanwalt findet.
[12] b) Entgegen der Rechtsbeschwerde dürfte es auch keinen Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 26 FamFG) darstellen, dass das Beschwerdegericht keine weiteren Ermittlungen zur Volljährigkeit des Betroffenen für erforderlich gehalten hat. Das Amtsgericht durfte ohne weitere Ermittlungen aufgrund des bestandskräftigen Bescheids des Jugendamts zur Altersfestsetzung nach § 42f SGB VIII vom 17. März 2021 von der Volljährigkeit des Betroffenen ausgehen. Der Betroffene hatte, nachdem er zuvor bei Aufgriffen durch die Polizei als Geburtsdatum mehrfach den 18. März 2003 genannt hatte, gegenüber dem Jugendamt am Vortag des Tages, an dem er nach seinen früheren Angaben volljährig geworden wäre, angegeben, am 23. August 2004 geboren zu sein. Das Jugendamt hat sodann aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes, des Verhaltens des Betroffenen und der weiteren Umstände festgestellt, dass das Geburtsdatum 23. August 2004 nicht den tatsächlichen Verhältnissen entspricht und dieses aufgrund der Gesamtumstände entsprechend den früheren Angaben des Betroffenen auf den 18. März 2003 festgesetzt. Dagegen hat der Betroffene sich nicht gewendet.
Roloff Tolkmitt Picker
Vogt-Beheim Holzinger