BGH, Beschluss vom 29. Juli 2025 - XIII ZB 62/21
BUNDESGERICHTSHOF
vom
29. Juli 2025
in der Haftaufhebungssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
AufenthG § 62 Abs. 3a Nr. 2
a) Bei der Anordnung von Sicherungshaft wird Fluchtgefahr nicht nach § 62 Abs. 3a Nr. 2 AufenthG widerleglich vermutet, wenn die Behörde den erforderlichen Hinweis, wonach im Fall des Nichtantreffens eine Inhaftnahme in Betracht kommt, ausdrücklich auf die Möglichkeit der Anordnung von Mitwirkungshaft gemäß § 62 Abs. 6 Satz 1 AufenthG beschränkt hat.
b) Der Hinweis nach § 62 Abs. 3a Nr. 2 AufenthG muss in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Ankündigung des Termins gemäß § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erfolgen.
BGH, Beschluss vom 29. Juli 2025 - XIII ZB 62/21 - LG Dortmund, AG Dortmund
Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. Juli 2025 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt sowie die Richterinnen Dr. Picker, Dr. Vogt-Beheim und Dr. Holzinger
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde wird der Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund vom 24. November 2021 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Vollzug der durch den Beschluss des Amtsgerichts Dortmund vom 27. Januar 2021 angeordneten Haft den Betroffenen in dem Zeitraum vom 7. März 2021 bis zum 16. März 2021 in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Land Nordrhein-Westfalen auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe:
[1] I. Der Betroffene, ein guineischer Staatsangehöriger, reiste 2018 nach Deutschland ein. Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) mit Bescheid vom 29. Januar 2019 ab und forderte ihn unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise auf. Die dagegen erhobene Klage blieb ohne Erfolg. Zu zwei Sammelanhörungen, die der Identifizierung des Betroffenen durch die guineischen Behörden dienen sollten, erschien dieser nicht. Nachdem er untergetaucht war, wurde er zur Fahndung ausgeschrieben und am 27. Januar 2021 festgenommen. Auf Antrag der beteiligten Behörde ordnete das Amtsgericht mit Beschluss vom 27. Januar 2021 gegen den Betroffenen Sicherungshaft bis zum 17. März 2021 an.
[2] Am 7. März 2021 hat der Rechtsbeschwerdeführer beim Amtsgericht angezeigt, dass er die Person des Vertrauens (im Folgenden: Vertrauensperson) des Betroffenen sei, und die Aufhebung der Sicherungshaft beantragt. Nachdem der Betroffene am 16. März 2021 abgeschoben worden war, hat das Amtsgericht den noch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft gerichteten Aufhebungsantrag mit Beschluss vom 19. März 2021 zurückgewiesen. Die dagegen von der Vertrauensperson eingelegte Beschwerde hat das Landgericht als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich diese mit der Rechtsbeschwerde.
[3] II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache Erfolg.
[4] 1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Beschwerde der Vertrauensperson sei unzulässig. Nachdem der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen in dem gegen die Haftanordnung gerichteten Beschwerdeverfahren erklärt habe, wegen fehlenden Kontakts zum Betroffenen werde kein Feststellungsantrag gestellt, sei auch der im Aufhebungsverfahren von der Vertrauensperson gestellte Feststellungsantrag unzulässig.
[5] 2. Das hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Das Landgericht hat die Beschwerde der Vertrauensperson zu Unrecht als unzulässig verworfen.
[6] a) Die Beschwerde war zulässig, weil der Betroffene oder für ihn seine Vertrauensperson unabhängig von der Einlegung und Durchführung einer Beschwerde gegen die Haftanordnung auch noch nach Eintritt deren formeller Rechtskraft die Aufhebung der Haft gemäß § 426 Abs. 2 Satz 1 FamFG beantragen darf (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Mai 2020 - XIII ZB 82/19, InfAuslR 2020, 387 Rn. 23; vom 23. Februar 2021 - XIII ZB 52/20, juris Rn. 14; vom 20. April 2021 - XIII ZB 93/20, juris Rn. 20; vom 22. März 2022 - XIII ZB 5/21, juris Rn. 8). Dem Feststellungsantrag der Vertrauensperson steht im vorliegenden Haftaufhebungsverfahren weder eine anderweitige Rechtshängigkeit noch eine materielle Rechtskraft der Entscheidung des Beschwerdegerichts im Anordnungsverfahren entgegen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. April 2021 - XIII ZB 93/20, juris Rn. 21), weil das Beschwerdegericht die Beschwerde des Betroffenen im Haftanordnungsverfahren als unzulässig verworfen hat.
[7] b) Das Landgericht konnte die Beschwerde der Vertrauensperson auch nicht mit der Begründung als unzulässig verwerfen, der Feststellungsantrag sei unzulässig geworden. Die Zulässigkeit des Feststellungsantrags ist bereits keine Zulässigkeitsvoraussetzung der Beschwerde.
[8] 3. Die Beschwerde war aber auch nicht unbegründet. Anders als das Beschwerdegericht gemeint hat, war der Feststellungsantrag zulässig. Ein Widerspruch zu den Interessen des Betroffen kann in der Verfahrensführung durch die Vertrauensperson nicht erblickt werden.
[9] a) Nach § 418 Abs. 3 Nr. 2, § 429 Abs. 2 Nr. 2 FamFG darf die von dem Betroffenen benannte - selbst in ihren Rechten nicht betroffene - Vertrauensperson nur in dessen Interesse tätig werden. Sie ist daher nicht berechtigt, unter Hinwegsetzung über den von dem Betroffenen oder seinem Verfahrensbevollmächtigten geäußerten Willen die Feststellung der Rechtswidrigkeit von Abschiebungshaft zu beantragen. Ein solcher Antrag ist unzulässig (BGH, Beschlüsse vom 26. Juni 2014 - V ZB 5/14, InfAuslR 2014, 443 Rn. 8; vom 9. Juli 2024 - XIII ZB 44/23, juris Rn. 7).
[10] b) Der im Beschwerdeverfahren betreffend die Haftanordnung abgegebenen Erklärung des Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen ist, anders als das Beschwerdegericht angenommen hat, ein entgegenstehender Wille des Betroffenen im Hinblick auf die Durchführung des Haftaufhebungsverfahrens nicht zu entnehmen. In dieser Erklärung teilt der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen lediglich mit, dass er keinen Kontakt zum Betroffenen habe und daher in jenem Beschwerdeverfahren mangels Kenntnis des Willens des Betroffenen keine Prozesserklärungen abgeben werde. Ein etwaiger Wille des Betroffenen, das hiesige Haftaufhebungsverfahren nicht weiter zu verfolgen, lässt sich daraus nicht entnehmen.
[11] 4. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts war danach aufzuheben (§ 74 Abs. 5 FamFG). Für den Zeitraum ab Eingang des Haftaufhebungsantrags war auszusprechen, dass der Betroffene durch den Vollzug der Haft in seinen Rechten verletzt worden ist (§ 74 Abs. 6 Satz1 FamFG). Die Beschwerde war auch in der Sache begründet. Die Haftanordnung war rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des Haftgrunds der Fluchtgefahr nicht erfüllt waren. Das kann der Senat ungeachtet des Umstandes, dass das Landgericht die Beschwerde der Vertrauensperson als unzulässig verworfen hat, auf der Grundlage des von Amts wegen zu prüfenden Haftantrags, des in der Haftanordnung festgestellten Sachverhalts, des gemäß § 74 Abs. 3 Satz 4, § 28 Abs. 4 FamFG i.V.m. § 559 ZPO zu berücksichtigenden Protokolls der der Haftanordnung vorausgegangenen Anhörung des Betroffenen und der verwertbaren Teile der Beschwerdeentscheidung selbst entscheiden, weil weitere Feststellungen nicht zu erwarten sind (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG).
[12] a) Fluchtgefahr war, anders als das Amtsgericht angenommen hat, nicht nach § 62 Abs. 3a Nr. 2 AufenthG widerleglich zu vermuten. Nach dieser Vorschrift wird Fluchtgefahr vermutet, wenn der Ausländer unentschuldigt zur Durchführung einer Anhörung nach § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht an dem von der Ausländerbehörde angegebenen Ort angetroffen wurde, sofern der Ausländer bei der Ankündigung des Termins auf die Möglichkeit seiner Inhaftnahme im Falle des Nichtantreffens hingewiesen wurde.
[13] aa) Ob ein genereller Hinweis auf die Anordnung irgendeiner Form von Abschiebungshaft im Sinne des § 62 AufenthG ausreicht, braucht im Streitfall nicht entschieden zu werden. Beschränkt die Behörde, wie hier, den Hinweis ausdrücklich auf die Möglichkeit der Anordnung von Mitwirkungshaft gemäß § 62 Abs. 6 Satz 1 AufenthG unter Angabe der danach geltenden Höchstdauer von 14 Tagen, so genügt das jedenfalls nicht den Anforderungen des § 62 Abs. 3a Nr. 2 AufenthG. Wegen der im Vergleich zur Sicherungshaft deutlich kürzeren Höchstdauer wird dem betroffenen Ausländer mit dem Hinweis auf eine mögliche Mitwirkungshaft die Reichweite der in Betracht kommenden Folgen eines Nichtantreffens nicht hinreichend deutlich vor Augen geführt.
[14] bb) Der dem Betroffenen bereits mehr als ein Jahr zuvor und nicht in Zusammenhang mit der in Rede stehenden Ankündigung erteilte Hinweis auf die Möglichkeit von Sicherungshaft im Falle seines Nichtantreffens bei einem Termin nach § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG genügte den gesetzlichen Voraussetzungen ebenfalls nicht. § 62 Abs. 3a Nr. 2 AufenthG verlangt ausdrücklich, dass der Betroffene über die Folgen bei Ankündigung des Termins belehrt wird (vgl. auch Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 10. Mai 2019, BT-Drucks. 19/10047, S. 41). Danach muss der Hinweis in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Ankündigung erfolgen, weil sie nur dann die ihr vom Gesetz zugedachte Warnfunktion erfüllen kann. Diesen Anforderungen genügt die hier zeitlich weit zurückliegende Belehrung über die Möglichkeit von Sicherungshaft nicht.
[15] b) Fluchtgefahr war entgegen der Annahme des Amtsgerichts auch nicht nach § 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG widerleglich zu vermuten. Danach ist von Fluchtgefahr auszugehen, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort trotz Hinweises auf die Anzeigepflicht gewechselt hat, ohne der zuständigen Behörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Zwar hat der Betroffene seinen Aufenthaltsort gewechselt, ohne der beteiligten Behörde dies anzuzeigen. Er ist auf diese Anzeigepflicht allerdings nur in deutscher Sprache und nicht wie erforderlich in einer ihm verständlichen Sprachen hingewiesen worden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Januar 2017 - V ZB 120/16, juris Rn. 5; vom 24. März 2020 - XIII ZB 62/19, InfAuslR 2020, 280 Rn. 11). Die beteiligte Behörde geht im Haftantrag selbst davon aus, dass der Betroffene nicht der deutschen Sprache mächtig ist und allenfalls die französische beherrscht. Auch die Anhörung des Betroffenen vor dem Amtsgericht fand in Anwesenheit einer Dolmetscherin statt.
[16] c) Schließlich bestand auch nach § 62 Abs. 3b Nr. 5 AufenthG kein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr. Die Vorschrift knüpft an die Nichterfüllung anderer Mitwirkungshandlungen als die in § 62 Abs. 3a Nr. 2 AufenthG an. Darauf stützt sich die beteiligte Behörde nicht. Der zugrunde zu legende Sachverhalt lässt eine solche fehlende Mitwirkungshandlung auch nicht erkennen.
[17] III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG. Soweit dem Betroffenen im Haftanordnungsverfahren Dolmetscherkosten auferlegt wurden, kommt eine Korrektur nicht in Betracht, weil die Kostenentscheidung des Haftanordnungsverfahrens im Haftaufhebungsverfahren nicht zur Entscheidung angefallen ist.
Roloff Tolkmitt Picker
Vogt-Beheim Holzinger