BGH, Beschluss vom 13. August 2025 - XII ZB 285/25

14.10.2025

BUNDESGERICHTSHOF

vom

13. August 2025

in der betreuungsgerichtlichen Zuweisungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


SGB X § 15; FamFG §§ 70 Abs. 3, 340 Nr. 2; BGB § 1814 Abs. 2


a) Gegen Entscheidungen des Beschwerdegerichts in betreuungsgerichtlichen Zuweisungssachen, welche die Bestellung eines Vertreters nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X in einem sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren betreffen, findet eine zulassungsfreie Rechtsbeschwerde gemäß § 15 Abs. 4 SGB X iVm § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG statt (Abgrenzung zu Senatsbeschluss vom 19. September 2018 ­ XII ZB 427/17 ­ FamRZ 2018, 1935).

b) Für den Beteiligten eines sozialrechtlichen Verwaltungsverfahrens, der infolge einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung in diesem Verfahren nicht sachgerecht handeln kann, darf ohne dessen Einwilligung kein Vertreter nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X bestellt werden, wenn der Beteiligte hinsichtlich der Vertreterbestellung über einen freien Willen verfügt.


BGH, Beschluss vom 13. August 2025 - XII ZB 285/25 - LG Münster, AG Bocholt


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 13. August 2025 durch den Vorsitzenden Richter Guhling, die Richter Prof. Dr. Klinkhammer und Dr. Botur und die Richterinnen Dr. Krüger und Dr. Recknagel

beschlossen:

Dem Betroffenen wird gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Münster vom 31. März 2025 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der vorgenannte Beschluss aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Gründe:

[1] I. Das Verfahren betrifft die Bestellung eines Vertreters nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X in einem sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren.

[2] Der 1983 geborene Betroffene steht im Bezug einer unbefristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung. Daneben bezog er seit 2016 von der Stadt B. laufend ergänzende Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Grundsicherung). Zuletzt bewilligte die Stadt B. dem Betroffenen ergänzende Grundsicherung bis einschließlich 31. August 2022. Den Antrag des Betroffenen auf Weitergewährung von Grundsicherungsleistungen ab 1. September 2022 lehnte die Stadt B. durch Bescheid vom 14. September 2022 wegen fehlender Mitwirkung des Betroffenen an der Aufklärung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse ab. Ein hiergegen von dem Betroffenen angestrengtes sozialgerichtliches Eilverfahren blieb in erster Instanz vor dem Sozialgericht ohne Erfolg. Im Beschwerderechtszug erkannte das Landessozialgericht mit Beschluss vom 2. Mai 2023 demgegenüber, dass sich der Versagungsbescheid nach summarischer Prüfung als rechtswidrig darstelle. Es verpflichtete die Stadt B. zur Erbringung von ergänzenden Grundsicherungsleistungen an den Betroffenen für den Zeitraum vom 1. September 2022 bis zum 31. August 2023 und verwies in seiner Begründung unter anderem darauf, dass der Betroffene seine verwaltungsverfahrensrechtlichen Mitwirkungsobliegenheiten nach Aktenlage möglicherweise aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht habe erfüllen können und in diesen Fällen die Bestellung eines Vertreters nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X der Leistungsversagung gegenüber vorrangig sei.

[3] Nach der vorgenannten Entscheidung des Landessozialgerichts ging die Stadt B. für die anschließenden Leistungszeiträume ab 1. September 2023 dazu über, dem Betroffenen ergänzende Grundsicherungsleistungen (lediglich) vorläufig zu bewilligen. Sie ist der Auffassung, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen wegen dessen weiterhin fehlender Mitwirkung noch immer ungeklärt seien und hat bei dem Betreuungsgericht die Bestellung eines Verfahrensvertreters nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X beantragt, um eine endgültige Entscheidung über die Leistungsbewilligung für die Zeiträume ab 1. September 2023 herbeiführen zu können.

[4] Das Amtsgericht hat dem Betroffenen die als Mitarbeiterin in einem Betreuungsverein beschäftigte Beteiligte zu 1 "als Vertreterin in dem sozialrechtlichen und sozialgerichtlichen, beim Sozialgericht (...), bzw. beim Landessozialgericht (...) geführten Verfahren beigeordnet". Die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen.

[5] Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, der die Aufhebung der Vertreterbestellung begehrt.

[6] II. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Sie ist insbesondere ohne Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft.

[7] Nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG findet eine zulassungsfreie Rechtsbeschwerde insbesondere in den auf die Bestellung eines Betreuers gerichteten Betreuungssachen statt. Das vorliegende Verfahren betrifft die gerichtliche Bestellung eines sonstigen Vertreters in einem Sozialverwaltungsverfahren. Es hat damit keine "Betreuungssache" aus dem Katalog des § 271 FamFG, sondern eine betreuungsgerichtliche Zuweisungssache nach § 340 Nr. 2 FamFG zum Gegenstand. Im vorliegenden Fall ist § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG jedoch entsprechend anzuwenden.

[8] 1. Allerdings hat der Senat in einer Entscheidung betreffend die Bestellung eines Pflegers für einen Volljährigen unter der bis zum 31. Dezember 2022 geltenden Rechtslage (§§ 1911, 1913 oder 1914 BGB) ausgesprochen, dass in diesen betreuungsgerichtlichen Zuweisungssachen gemäß § 340 Nr. 1 FamFG eine zulassungsfreie Rechtsbeschwerde nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG nicht stattfindet. Da das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit für betreuungsgerichtliche Zuweisungssachen selbst keine besonderen Verfahrensvorschriften enthält, insbesondere die §§ 340, 341 FamFG keine allgemeine Verweisung auf die Vorschriften über Betreuungssachen in §§ 271 bis 311 FamFG enthalten, kann die Bestellung eines Pflegers einer Betreuungssache nicht gleichgestellt werden. Auch eine entsprechende Anwendung von § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG auf die Bestellung eines Pflegers nach §§ 1911, 1913 oder 1914 BGB ist aufgrund des Ausnahmecharakters der Vorschrift und des Fehlens einer planwidrigen Regelungslücke nicht möglich (vgl. Senatsbeschluss vom 19. September 2018 ­ XII ZB 427/17 ­ FamRZ 2018, 1935 Rn. 6 f.).

[9] 2. Die hier zur Beurteilung stehende Fallgestaltung ist jedoch insoweit anders gelagert, als sich die Verweisung auf das Betreuungsrecht aus einer spezialgesetzlichen Anordnung ergibt. Nach § 15 Abs. 4 SGB X gelten für die Bestellung und für das Amt des Vertreters für einen kranken oder behinderten Beteiligten (§ 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X) die Vorschriften über die Betreuung entsprechend; vergleichbare Regelungen finden sich beispielsweise auch im Verwaltungsverfahrensgesetz (§ 16 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 4 VwVfG) und in der Abgabenordnung (§ 81 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 4 AO). Die in § 15 Abs. 4 SGB X enthaltene ausdrückliche Verweisung erfasst nicht nur das materielle Betreuungsrecht, sondern auch das für Betreuungssachen maßgebliche Verfahrensrecht (vgl. BT­Drucks. 7/910 S. 45 zu § 15 Abs. 4 VwVfG-E; vgl. weiterhin Prehn in Diering/?Timme/Stähler SGB X 6. Aufl. § 15 Rn. 7; Schoch/Schneider/Geis VwVfG [Stand: November 2024] § 16 Rn. 33; NK-VwVfG/Dombert 2. Aufl. § 16 Rn. 31; Ziekow VwVfG 4. Aufl. § 16 Rn. 11). In Verfahren, welche die Bestellung eines Vertreters nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 4 SGB X betreffen, sind daher die Verfahrensvorschriften über die Betreuungssachen in §§ 271 bis 311 FamFG entsprechend anzuwenden (vgl. Senatsbeschluss vom 16. November 2011 ­ XII ZB 6/11 ­ FamRZ 2012, 293 Rn. 14 zu § 16 Abs. 4 VwVfG).

[10] Ordnet das Gesetz in § 15 Abs. 4 SGB X ohne Beschränkung auf das materielle Recht (wie etwa § 1888 Abs. 1 BGB für die Bestellung von Pflegern für Volljährige nach dem seit dem 1. Januar 2023 geltenden Recht) an, die Bestellung eines Vertreters im betreuungsgerichtlichen Verfahren wie die Bestellung eines Betreuers zu behandeln, ist es darüber hinaus folgerichtig, auch die Vorschriften im allgemeinen Teil des Familienverfahrensgesetzes entsprechend anzuwenden, soweit darin ­ wie insbesondere in § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG ­ spezielle Bestimmungen für Betreuungssachen zu finden sind (aA BeckOGK/?Siede [Stand: 15. Februar 2025] FamFG § 340 Rn. 17). Für die entsprechende Anwendung des § 70 Abs. 3 Nr. 1 FamFG spricht schließlich auch die Überlegung, dass die Bestellung eines Vertreters nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X in ihren Wirkungen weitgehend der Bestellung eines Betreuers mit einem auf die Führung des Sozialverwaltungsverfahrens bezogenen Aufgabenkreis entspricht.

[11] III. Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.

[12] 1. Ist ein Vertreter in einem sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren nicht vorhanden, so hat das zuständige Betreuungsgericht (vgl. § 15 Abs. 2 SGB X) gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X auf Ersuchen der Behörde einen geeigneten Vertreter für einen Beteiligten zu bestellen, der infolge einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung nicht in der Lage ist, in diesem Verfahren selbst tätig zu werden. Das Betreuungsgericht darf nur auf Ersuchen der Behörde tätig werden, wobei es aber nicht an die Beurteilung der Behörde gebunden ist, dass der Beteiligte krankheits- oder behinderungsbedingt an der eigenen Wahrnehmung seiner Interessen im Verwaltungsverfahren gehindert ist. Vielmehr hat es die materiellen Voraussetzungen von § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X im Rahmen seiner Pflicht zur amtswegigen Ermittlung des Sachverhalts (§ 26 FamFG) eigenständig zu überprüfen (vgl. BeckOGK/?Mutschler [Stand: 15. November 2023] SGB X § 15 Rn. 26; Prehn in Diering/?Timme/Stähler SGB X 6. Aufl. § 15 Rn. 7; Schütze/Roller SGB X 9. Aufl. § 15 Rn. 15; vgl. auch Schmitz in Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG 10. Aufl. § 16 Rn. 6; Obermaier/Funke-Kaiser/Hönig VwVfG 6. Aufl. § 16 Rn. 59; Ziekow VwVfG 4. Aufl. § 16 Rn. 9).

[13] Wie sich demgegenüber aus der Formulierung "hat ... zu bestellen" ergibt, unterliegt das Ermessen, welches die Behörde im Verwaltungsverfahren bei dem Ersuchen auf Vertreterbestellung ausgeübt hat, keiner Nachprüfung durch das Betreuungsgericht, insbesondere nicht auf dessen Zweckmäßigkeit (vgl. Prehn in Diering/Timme/Stähler SGB X 6. Aufl. § 15 Rn. 7; Schütze/Roller SGB X 9. Aufl. § 15 Rn. 15; vgl. auch Schmitz in Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG 10. Aufl. § 16 Rn. 6; Obermaier/Funke-Kaiser/Hönig VwVfG 6. Aufl. § 16 Rn. 59; Ziekow VwVfG 4. Aufl. § 16 Rn. 9). Das Betreuungsgericht darf deshalb das Ersuchen der Behörde nicht etwa mit der Begründung ablehnen, die Bestellung eines Vertreters sei nicht erforderlich, weil das Verwaltungsverfahren auch ohne Mitwirkungshandlungen vonseiten des Verfahrensbeteiligten abgeschlossen werden könne.

[14] 2. Das Beschwerdegericht hat die von ihm angeordnete Bestellung eines Vertreters für den Betroffenen wie folgt begründet:

[15] Der Betroffene sei infolge einer psychischen Krankheit nicht in der Lage, in dem sozialrechtlichen bzw. sozialgerichtlichen Verfahren selbst sachgerecht tätig zu werden. Ausweislich des Sachverständigengutachtens liege bei dem Betroffenen eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit zwanghaften schizoiden und paranoiden Anteilen vor. Er habe bei den zurückliegenden sozialgerichtlichen Verfahren im Verlauf zunehmend weniger die eigentliche Sache verfolgt, sondern sich aufgrund seiner Neigung, sich übermäßig mit Details, Regeln und Formalien zu befassen, in Formalitäten verstrickt. Zudem sei eine zunehmende psychosoziale Gefährdungslage für den Betroffenen zu befürchten, wenn die von ihm in sehr großer Zahl gegen die Stadt B. geführten Verfahren an Dramatik gewinnen würden. Der Betroffene vermöge zwar einen freien Willen zu bilden, vor dem Hintergrund der bisherigen Entwicklung müsse jedoch davon ausgegangen werden, dass zumindest die Fähigkeit des Betroffenen, nach einer entsprechenden Einsicht zu handeln und Gerichtsverfahren im eigenen Interesse und nicht um des Widerspruchs willen zu führen, erheblich vermindert sei. Auf das fehlende Einverständnis des Betroffenen mit der Bestellung des Vertreters komme es nicht an, denn anders als im grundsätzlich anzuwendenden Betreuungsrecht könne auch gegen den erklärten Willen des Betroffenen ein Verfahrensvertreter bestellt werden. Das sozialrechtliche bzw. sozialgerichtliche Verfahren, in dem die Vertreterbestellung erfolgte, sei auch noch nicht abgeschlossen.

[16] 3. Dies hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand.

[17] a) Die Bestellung eines Vertreters in einem sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren ist entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts gegen den freien Willen des betroffenen Verfahrensbeteiligten nicht möglich.

[18] aa) Dies ergibt sich bereits aus Wortlaut und Systematik des Gesetzes. § 15 Abs. 4 SGB X verweist ohne Einschränkungen auch auf die Vorschriften des materiellen Betreuungsrechts. Zu den damit in Bezug genommenen Bestimmungen gehört § 1814 Abs. 2 BGB (früher: § 1896 Abs. 1a BGB), wonach gegen den freien Willen des Volljährigen ein Betreuer nicht bestellt werden darf (klarstellend Sternal/Göbel FamFG 21. Aufl. § 340 Rn. 6).

[19] bb) Allerdings entspricht es einer im Anschluss an eine Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen [20. Senat] FamRZ 2018, 291, 292; offengelassen in LSG Nordrhein-Westfalen [9. Senat] Beschluss vom 2. Mai 2023 ­ L 9 SO 7/23 B ER ­ juris Rn. 15) in der sozialrechtlichen Literatur teilweise vertretenen und auch vom Beschwerdegericht geteilten Auffassung, dass das Verbot der Zwangsbetreuung (§ 1814 Abs. 2 BGB) der Bestellung eines Vertreters nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X für einen zur freien Willensbestimmung fähigen, aber im Sozialverwaltungsverfahren handlungsunfähigen Verfahrensbeteiligten nicht entgegenstehe, auch wenn dieser mit der Vertreterbestellung nicht einverstanden sei (vgl. BeckOK SozR/Weber SGB X [Stand: 1. März 2025] § 15 Rn. 15a; Schütze/Roller SGB X 9. Aufl. § 15 Rn. 10; wohl auch BeckOGK/Mutschler [Stand: 15. November 2023] SGB X § 15 Rn. 28).

[20] Dies trifft nicht zu.

[21] (1) Die vorgenannte Ansicht kann sich insbesondere nicht auf Sinn und Zweck von § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X stützen. Zwar mag es zutreffend sein, dass durch die Bestellung des Vertreters nach dieser Vorschrift in erster Linie die Interessen des Vertretenen im Sozialverwaltungsverfahren gewahrt werden sollen, um dessen soziale Rechte zu verwirklichen und ihn nicht faktisch von Sozialleistungen auszuschließen. Indessen finden alle staatlichen Maßnahmen des Erwachsenenschutzes ihre verfassungsrechtliche Grenze am Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG) des Betroffenen. Der Staat hat von Verfassungs wegen nicht das Recht, seine erwachsenen und zur freien Willensbestimmung fähigen Bürger zu erziehen, zu "bessern" oder daran zu hindern, sich selbst zu schädigen (vgl. Senatsbeschluss vom 17. Mai 2017 ­ XII ZB 495/16 ­ FamRZ 2017, 1341 Rn. 11 mwN; vgl. auch BT-Drucks. 15/2494 S. 28). Unter der Voraussetzung eines freien Willens steht es vielmehr jedermann frei, staatliche Hilfe zurückzuweisen, sofern dadurch nicht Rechtsgüter anderer oder der Allgemeinheit in Mitleidenschaft gezogen werden (vgl. Senatsbeschluss vom 13. April 2016 ­ XII ZB 95/16 ­ FamRZ 2016, 1068 Rn. 11 mwN). Wie der Senat zur Bestellung eines Betreuers bereits mehrfach ausgesprochen hat, muss die ablehnende Haltung eines zur freien Willensbestimmung fähigen Betroffenen respektiert werden, auch wenn die Einrichtung einer Betreuung für ihn objektiv vorteilhaft gewesen wäre (vgl. Senatsbeschlüsse vom 16. September 2015 ­ XII ZB 500/14 ­ FamRZ 2015, 2160 Rn. 18 und vom 22. Januar 2014 ­ XII ZB 632/12 ­ FamRZ 2014, 647 Rn. 10 mwN). In Bezug auf die Bestellung eines Vertreters im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren, für die kraft Gesetzes die Maßstäbe des materiellen Betreuungsrechts gelten, ist keine abweichende Beurteilung gerechtfertigt.

[22] (2) Auch aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes lässt sich nichts für die Annahme herleiten, dass es auf einen der Vertreterbestellung entgegenstehenden freien Willen des Betroffenen nicht ankommen könne.

[23] (a) Die ursprüngliche Fassung von § 15 SGB X trat am 1. Januar 1981 in Kraft (Sozialgesetzbuch vom 18. August 1980, BGBl. I S. 1469). § 15 SGB X aF stimmte seinerzeit weitgehend wörtlich mit der seit dem 1. Januar 1977 geltenden Ursprungsfassung von § 16 VwVfG (Verwaltungsverfahrensgesetz vom 25. Mai 1976, BGBl. I S. 1253) überein. § 15 Abs. 4 SGB X aF und § 16 Abs. 4 VwVfG aF verwiesen für die Bestellung und für das Amt des Vertreters auf die entsprechende Anwendung der Vorschriften zur Pflegschaft. Für einen kranken oder behinderten Verfahrensbeteiligten kam daher nach dem damaligen Rechtszustand die Bestellung eines Vertreters unter den Voraussetzungen der Einrichtung einer Gebrechlichkeitspflegschaft (§ 1910 BGB) in Betracht. Gemäß § 1910 Abs. 3 BGB durfte die Pflegschaft nur mit Einwilligung des Gebrechlichen angeordnet werden, es sei denn, dass eine Verständigung mit ihm nicht möglich war. Nach der damaligen Rechtsprechung zur Gebrechlichkeitspflegschaft war mit Blick auf den Fürsorgecharakter der Vorschrift von einer fehlenden Verständigungsmöglichkeit im Sinne von § 1910 Abs. 3 BGB bereits dann auszugehen, wenn der Betroffene infolge eines die freie Willensbestimmung ausschließenden und nicht nur vorübergehenden Zustands krankhafter Störung der Geistestätigkeit im Sinne von § 104 Nr. 2 BGB geschäftsunfähig geworden war (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 93, 1 = FamRZ 1985, 276 mwN; vgl. auch BGHZ 35, 1 = NJW 1961, 1397 mwN und bereits RGZ 65, 199, 202).

[24] Nach der bei Inkrafttreten der Ursprungsfassungen von § 15 SGB X und § 16 VwVfG bestehenden Rechtslage konnte demnach die Bestellung eines Vertreters im Verwaltungsverfahren für einen geschäftsfähigen Verfahrensbeteiligten wegen § 1910 Abs. 3 BGB ohne dessen Einwilligung nicht erfolgen. Den Gesetzesmaterialien zum Verwaltungsverfahrensgesetz und zum Sozialgesetzbuch lassen sich keine Anhaltspunkte für einen entgegenstehenden gesetzgeberischen Willen entnehmen. Gemäß der Entwurfsbegründung zum Verwaltungsverfahrensgesetz sollte § 16 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG in der ursprünglichen Fassung vielmehr dem § 1910 BGB entsprechen und dabei vor allem solche Fälle in den Blick nehmen, in denen der Beteiligte aus physischen Gründen nicht mehr imstande war, am Verwaltungsverfahren teilzunehmen (vgl. BT-Drucks. 7/910 S. 45 zu § 15 VwVfG-E). Es ergibt sich nichts dafür, dass dadurch eine Vertreterbestellung auch ohne die Einwilligung des geschäftsfähigen Verfahrensbeteiligten ermöglicht werden sollte.

[25] (b) Durch die Einführung des Instituts der rechtlichen Betreuung mit Wirkung zum 1. Januar 1992 und die damit einhergehenden Änderungen der Verweisungstechnik in § 15 Abs. 4 SGB X bzw. § 16 Abs. 4 VwVfG ist der Topos des "freien Willens" zwar in einen anderen Zusammenhang gestellt worden, ohne dass sich dadurch aber an der grundlegenden Bedeutung der freien Willensbestimmung für die Betreuer- bzw. Vertreterbestellung etwas geändert hätte. Das Betreuungsgesetz hat die Frage nach der Betreuungsbedürftigkeit und damit nach dem individuellen Bedürfnis für das Ergreifen von Maßnahmen des staatlichen Erwachsenenschutzes abweichend zum früheren Rechtszustand bewusst von der Frage der Geschäftsfähigkeit des Betroffenen gelöst. Es unterlag indessen keinem Zweifel, dass ein Betreuer aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht ohne das Einverständnis eines zur freien Willensbildung fähigen Betroffenen bestellt werden konnte, was der Gesetzgeber mit der nachträglichen Einfügung von § 1896 Abs. 1a BGB (jetzt § 1814 Abs. 2 BGB) durch das Zweite Betreuungsrechtsänderungsgesetz vom 21. April 2005 (BGBl. I S. 1073) auch gesetzlich klargestellt hat. Trotz der jeweils unterschiedlichen Bezugspunkte ­ Bestellung eines Betreuers einerseits, rechtsgeschäftliche Handlungen andererseits ­ ist der Begriff der freien Willensbestimmung im Sinne von § 1814 Abs. 2 BGB mit dem des § 104 Nr. 2 BGB im Kern deckungsgleich (vgl. Senatsbeschlüsse vom 7. Dezember 2022 ­ XII ZB 158/21 ­ FamRZ 2023, 467 Rn. 7 und vom 16. Dezember 2015 ­ XII ZB 381/15 ­ FamRZ 2016, 456 Rn. 10).

[26] b) Das Beschwerdegericht durfte es deshalb nicht unentschieden lassen, ob das fehlende Einverständnis des Betroffenen mit der Bestellung eines Vertreters auf einem freien Willen im Sinne von § 15 Abs. 4 SGB X iVm § 1814 Abs. 2 BGB beruht. Die Beschwerdeentscheidung erweist sich unter den obwaltenden Umständen auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 74 Abs. 2 FamFG), weil die bislang vom Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen ­ wie die Rechtsbeschwerde zu Recht beanstandet ­ nicht die Beurteilung tragen, dass dem Betroffenen die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung hinsichtlich der Vertreterbestellung fehlt.

[27] aa) Die beiden entscheidenden Kriterien einer freien Willensbestimmung sind die Einsichtsfähigkeit des Betroffenen und dessen Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln (Steuerungsfähigkeit). Nur wenn es zumindest an einem dieser beiden Elemente fehlt, liegt kein freier, sondern allenfalls ein natürlicher Wille vor. Dabei setzt die Einsichtsfähigkeit ­ im Kontext von § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X ­ die Fähigkeit des Betroffenen voraus, im Grundsatz die für und wider eine Vertreterbestellung im Sozialverwaltungsverfahren sprechenden Gesichtspunkte zu erkennen und gegeneinander abzuwägen. Der Betroffene muss Grund, Bedeutung und Tragweite einer Vertretung intellektuell erfassen können, was voraussetzt, dass er seine Defizite im Wesentlichen zutreffend einschätzen und auf der Grundlage dieser Einschätzung die für oder gegen eine Vertretung sprechenden Gesichtspunkte gegeneinander abwägen kann. Ist der Betroffene zur Bildung eines klaren Urteils zur Problematik der Vertreterbestellung in der Lage, muss ihm weiter möglich sein, nach diesem Urteil zu handeln und sich dabei insbesondere von Einflüssen interessierter Dritter abzugrenzen. Die Feststellungen zur Aufhebung des freien Willens müssen nach ständiger Rechtsprechung des Senats durch ein Sachverständigengutachten belegt sein (vgl. Senatsbeschluss vom 20. Dezember 2023 ­ XII ZB 514/21 ­ FamRZ 2024, 643 Rn. 11 mwN und vom 22. Januar 2014 ­ XII ZB 632/12 ­ FamRZ 2014, 647 Rn. 6 ff. mwN).

[28] bb) Diesen Anforderungen werden die bisherigen Feststellungen des Beschwerdegerichts nicht gerecht. Nach den Ausführungen des Sachverständigen, die das Beschwerdegericht seinen Feststellungen zugrunde gelegt hat, ist der Betroffene in dem Sinne einsichtsfähig, dass er offensichtlich die Bedeutung einer Vertretung im Verwaltungsverfahren und die "Folgen seiner Handlungen" erfassen kann. Darüber hinaus lässt sich dem Sachverständigengutachten aber nur die Einschätzung entnehmen, dass die Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln und Prozesse im eigenen Interesse statt um des Widerspruchs Willen zu führen, bei dem Betroffenen "erheblich vermindert" sei. Auch soweit das Beschwerdegericht aus diesen Ausführungen "erhebliche Zweifel" an der Steuerungsfähigkeit des Betroffenen herleitet, genügt dies für die eindeutige und sachverständig belegte Feststellung eines aufgehobenen freien Willens nicht (vgl. auch Senatsbeschlüsse vom 7. Dezember 2022 ­ XII ZB 158/21 ­ FamRZ 2023, 467 Rn. 10 und vom 16. März 2016 ­ XII ZB 455/15 ­ FamRZ 2016, 970 Rn. 8).

[29] 4. Die angefochtene Entscheidung kann daher keinen Bestand haben. Sie ist gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben, und die Sache ist nach § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf das Folgende hin:

[30] a) Die Bestellung eines Vertreters nach § 15 SGB X kann sich wegen ihrer auf das Verwaltungsverfahren beschränkten Wirkung nur auf bestimmte und konkret zu bezeichnende Verfahren beziehen. Die bei der Stadt B. geführten Verwaltungsverfahren unter Beteiligung des Betroffenen, für deren weitere Durchführung die Behörde um die Bestellung eines Vertreters nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X ersucht hat, betreffen nach deren Angaben die (endgültige) Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für die Zeiträume von September 2023 bis Februar 2024, von März bis August 2024 sowie von September 2024 bis Februar 2025. Der vom Beschwerdegericht gebilligten Beschlussformel des Amtsgerichts, die sich auf "sozialrechtliche" und "sozialgerichtliche, beim Sozialgericht (...) bzw. beim Landessozialgericht (...) geführte Verfahren" bezieht, fehlt es insoweit an der erforderlichen Bestimmtheit. Unabhängig davon, dass ein Vertreter nach § 15 SGB X in einem anschließenden gerichtlichen Verfahren keine Rechte hat (vgl. nur Schütze/Roller SGB X 9. Aufl. § 15 Rn. 19), betraf das in der Beschlussformel genannte und durch die Entscheidung des Landessozialgerichts vom 2. Mai 2023 abgeschlossene Sozialgerichtsverfahren im Übrigen die Gewährung von Grundsicherungsleistungen von September 2022 bis August 2023 und damit einen anderen (und abgeschlossenen) Sachverhalt.

[31] b) Die Bestellung eines Vertreters nach § 15 SGB X kommt nicht (mehr) in Betracht, wenn der geschäftsfähige Betroffene einen selbst gewählten und geeigneten Bevollmächtigten mit der Vertretung im Verwaltungsverfahren beauftragt (vgl. nur Schütze/Roller SGB X 9. Aufl. § 15 Rn. 5). Die Angaben des Betroffenen bei der Exploration durch den Sachverständigen, dass er gegebenenfalls Hilfe von seiner Schwester ­ die Richterin in H. sei ­ in Anspruch nehmen wolle, steht für sich genommen der Bestellung eines Vertreters von Amts wegen nicht entgegen, solange eine tatsächliche Vollmachterteilung nicht vorliegt und die dritte Person im Verwaltungsverfahren nicht tätig werden kann; insoweit kann

es sich dann auch nicht um eine ausreichende "andere Hilfe" im Sinne von § 1814 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 BGB handeln. Das Beschwerdegericht wird aber ­ sofern es darauf im Ergebnis der weiteren Ermittlungen ankommen sollte ­ zu prüfen haben, ob ein nach § 15 Abs. 4 SGB X iVm § 1816 Abs. 2 BGB grundsätzlich beachtlicher Wunsch bezüglich der Person des Vertreters (vgl. Schütze/Roller SGB X 9. Aufl. § 15 Rn. 15; Hauck/Noftz/Neumann [Stand: Februar 2025] SGB X § 15 Rn. 55) vorliegt.

Guhling Klinkhammer Botur

Krüger Recknagel

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